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Interview

Babycrash Schweiz: Experte über den entscheidenden Faktor

Babycrash in der Schweiz: Experte enthüllt den entscheidenden Faktor, den alle ignorieren

Baby-Boni, Steuererleichterungen, Kita-Subventionen: Keine dieser Massnahmen hebt die Geburtenrate nachhaltig. Der Soziologe Gert Stulp erklärt, wieso nicht und wo man wirklich ansetzen müsste.
22.11.2025, 14:4922.11.2025, 14:49
Stephanie Schnydrig / ch media

Die Geburtenrate in der Schweiz ist auf einem historischen Tief. Ist das die Quittung für eine im internationalen Vergleich familienfeindliche Politik – kurzer Mutter- und sehr kurzer Vaterschaftsurlaub, teure Kitas, nicht bezahlte künstliche Befruchtungen?
Gert Stulp: Das bezweifle ich. Selbst in Skandinavien, wo die wohl familienfreundlichsten Bedingungen weltweit herrschen, gehen die Geburtenraten zurück. Grosszügige Politik kann höchstens kleine Unterschiede erklären. Aber der grosse Trend, den wir – ausgenommen von einigen Ländern des Globalen Südens – weltweit beobachten, lässt sich nicht umkehren: Kinder zu bekommen, hat an Attraktivität eingebüsst und ist weniger zentral für ein erfülltes Leben.

Solche Bilder werden seltener: In der Schweiz und weltweit werden immer weniger Babys geboren.
Solche Bilder werden seltener: In der Schweiz und weltweit werden immer weniger Babys geboren. bild: getty

In der Schweiz ist der Anteil derer, die gar keine Kinder wollen, mit 17 Prozent tatsächlich so hoch wie noch nie zuvor. Nur: War der Anteil vielleicht immer so hoch und heute ist es gesellschaftlich einfach eher akzeptiert, das offen zu sagen?
Möglicherweise, aber das erklärt sicher nicht alles. Dass Menschen heute unsicherer geworden sind, was das Kinderkriegen angeht, ist ein realer Wandel. Aber es gibt dabei einen wichtigen Aspekt, der oft übersehen wird.

Welchen?
Die sogenannte Fertilitätslücke: Viele Menschen bekommen weniger Kinder, als sie sich wünschen.

Stimmt. In der Schweiz wünscht man sich gemäss dem Bundesamt für Statistik im Schnitt mindestens 1,84 Kinder, bekommt aber nur 1,29…
Eine solche Diskrepanz beobachten wir überall. Der Grund liegt vor allem darin, dass Menschen heute später Kinder bekommen. Sie wollen auf die perfekte Partnerschaft warten, eine gute Ausbildung abschliessen, eine stabile Karriere und eine schöne Wohnung haben, um einem Kind die bestmöglichen Bedingungen zu bieten. Nur: Je später man beginnt, desto weniger Zeit bleibt für mehr Kinder. Deshalb setzen viele politische Massnahmen aus meiner Sicht am falschen Ort an.

Wo?
Viele pronatalistische Politiken fixieren sich lediglich darauf, Menschen zu motivieren, überhaupt oder eine bestimmte Zahl von Kindern zu bekommen. In Ungarn bezahlt man ab dem vierten Kind keine Steuern mehr, Italien und Südkorea haben es mit Baby-Boni probiert. All diese Versuche sind krachend gescheitert. Die Geburtenrate konnte – wenn überhaupt – nur sehr kurzfristig erhöht werden.

Welche Art von Politik würde denn einen Unterschied machen?
Eine Politik, die diejenigen unterstützt, die Kinder wollen, diese wegen äusseren Umständen aber nicht früher bekommen können. Das heisst: Familien bezahlbaren Wohnraum zusichern, jungen Menschen früh stabile Arbeitsverhältnisse ermöglichen. Je einfacher der Einstieg ins «Erwachsenenleben» gelingt, desto weniger schieben Menschen das Kinderkriegen hinaus.

Gert Stulp ist Professor für computergestützte Sozialwissenschaften an der niederländischen Universität Groningen. Mit datengetriebenen Methoden untersucht er, weshalb Menschen Familien gründen – oder ...
Gert Stulp ist Professor für computergestützte Sozialwissenschaften an der niederländischen Universität Groningen. Mit datengetriebenen Methoden untersucht er, weshalb Menschen Familien gründen – oder eben nicht. Bild: GSMS

Viele Frauen zögern mit dem Kinderkriegen, weil die entscheidende Karrierephase genau in die fruchtbarsten Jahre fällt.
Das ist ein zentrales Problem. Die Jahre zwischen 30 und 40 sind in vielen Berufen entscheidend für Beförderungen und andere Weichenstellungen. Und Frauen werden in dieser Phase für eine Geburt immer noch deutlich härter bestraft als Männer. Wir müssten Karrieren langfristig denken. Es ist doch absurd, dass ausgerechnet die Jahre um die 30 darüber entscheiden, wohin jemand beruflich kommt – dabei hat eine Person, die mit 30 ein Kind bekommt, noch 30 bis 40 Jahre Berufsleben vor sich. Wenn wir Rahmenbedingungen schaffen, die eine Unterbrechung erlauben, ohne dass sie automatisch zum Karriereknick führt – wenn also jemand nach einer Kinderpause wieder am gleichen Punkt und mit denselben Chancen einsteigen kann –, würde das enorm viel Druck herausnehmen.

Grosse Tech- und Pharmakonzerne bieten ihren Mitarbeiterinnen Social Freezing an, also das Einfrieren von Eizellen, um das Spannungsfeld zwischen Kindern und Karriere zu entschärfen. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Für einzelne Frauen kann das durchaus entlastend sein – gerade wenn sie wissen, dass sie einmal Kinder möchten, aber noch keinen Partner haben. Aber gesellschaftlich ist Social Freezing aus meiner Sicht keine Lösung. Erstens entsteht ein subtiler Druck: Wenn alle Kolleginnen Eizellen einfrieren, fühlt man sich schnell verpflichtet, es ebenfalls zu tun – obwohl man das vielleicht gar nicht möchte. Zweitens kann es dazu führen, dass die Entscheidung für ein Kind weiter hinausgeschoben wird – bis in ein Alter, in dem das Risiko von Schwangerschaftskomplikationen steigt. Und drittens wissen wir aus Studien, dass die meisten Frauen ihre eingefrorenen Eizellen gar nicht nutzen.

Manche behaupten, der Feminismus sei schuld am Geburtenrückgang – weil Frauen Karriere vor Familie setzen. Was sagen Sie dazu?
Das ist viel zu einfach und schlicht absurd. Wenn wir uns überhaupt auf das Spiel einer Schuldzuweisung einlassen wollen, dann ist die Modernisierung der Gesellschaft insgesamt schuld: Neben der höheren Erwerbstätigkeit von Frauen ist das die höhere Bildung bei Frauen und Männern, die Individualisierung, der Hang zur Selbstverwirklichung – all das. Feminismus ist lediglich Teil eines viel grösseren gesellschaftlichen Wandels.

Sie haben untersucht, ob und wie unser Umfeld den Kinderwunsch beeinflusst. Was zeigt Ihre Forschung?
Unsere sozialen Netzwerke prägen Vorstellungen davon, was «normal» ist – etwa die Idee, dass zwei Kinder die richtige Familiengrösse seien. Und natürlich wirkt sich das Verhalten des Umfelds aus: Wenn Freundinnen oder Kolleginnen Kinder bekommen, beeinflusst das häufig auch den eigenen Zeitpunkt der Familiengründung. In Firmen kennt man sogar richtige Geburtenwellen. Auch Prominente können Normen setzen – ob sie viele Kinder haben oder bewusst kinderfrei leben. Aber unsere niederländische Studie mit 18’000 sozialen Beziehungen hat gezeigt: Im Vergleich zu individuellen Faktoren wie Alter, Bildung oder Partnerschaft spielen diese Netzwerkeffekte eine viel geringere Rolle.

Leute wie Elon Musk scheinen wegen des Rückgangs der Geburtenraten regelrecht in Panik zu geraten. Wie sehen Sie das?
Das ist heikles Terrain. Denn wenn man sich besorgt äussert und damit mit Elon Musk und Konsorten in Verbindung gebracht wird, wird man schnell so verstanden, als wolle man lediglich bestimmte ethnische oder elitäre Gruppen zur Reproduktion bewegen. Das ist überhaupt nicht meine Position. Und ohnehin wären für den Planeten 5 Milliarden Menschen wohl tatsächlich besser tragbar als 10 Milliarden. Aber für die jetzt alternden Gesellschaften entstehen Herausforderungen, etwa bezüglich Renten und der Pflege älterer Menschen. Und die alternde Bevölkerung könnte schlimmstenfalls eine Abwärtsspirale erzeugen, wenn eher für eine Politik gestimmt wird, die ihren Interessen dient – etwa höhere Renten –, statt für familienfreundliche Politiken. Damit wird die Familiengründung für die nächste Generation noch unattraktiver.

Eine Schweizer Politologin hat kürzlich eine Idee erwähnt, wonach das Wahlrecht in sehr hohem Lebensalter «erlöschen» könnte.
Das demografische Ungleichgewicht bereitet mir durchaus Sorgen. Aber das Wahlrecht einzuschränken, halte ich für keine Option. Menschen bleiben Bürgerinnen und Bürger mit denselben Grundrechten, egal wie alt sie sind. Man kann die aktuelle Situation als eine Übergangsphase betrachten: Irgendwann sind die geburtenstarken Jahrgänge nicht mehr da, und dann dürfte sich das System wieder etwas ausbalancieren. Allerdings leben wir immer länger, sodass diese «Übergangsphase» sehr lange andauern dürfte.

Ein Uno-Bericht zeigt, dass rund ein Fünftel den Klimawandel, Krieg oder Umweltzerstörung als Gründe nennt, weniger oder keine Kinder zu wollen. Sehen Sie diese Motive in Ihrer Forschung auch?
Der Bericht bezieht sich auf Menschen aus sehr unterschiedlichen Regionen. Im Globalen Süden, wo die Folgen des Klimawandels bereits viel stärker spürbar sind, kann das tatsächlich ein triftiger Grund sein. In unseren Breiten äussern sich zwar ebenfalls manche in diese Richtung, aber es bleibt eine Minderheit. Und dabei handelt es sich weniger um einen spezifischen Klimawandel-Effekt als um einen allgemeinen Zukunftspessimismus. Ob der wirklich neu ist, ist schwer zu sagen. Auch frühere Generationen hatten Sorgen, vermutlich sogar grössere als wir heute. Man sieht regelmässig Geburtenknicks in wirtschaftlichen Krisenzeiten. Damals bedeutete das aber meist ein Hinauszögern, nicht das grundsätzliche Verwerfen des Kinderwunsches.

Wie sehen Sie die Zukunft? Könnte es eine Trendwende geben und die Fertilität wieder steigen?
Das ist schwierig einzuschätzen. Es gibt die Theorie des «Low-Fertility Trap»: Wenn eine Gesellschaft einmal sehr niedrige Fertilität gewöhnt ist, bleibt sie niedrig – weil Normen, Lebensstile und Erwartungen sich entsprechend verändern. Zum Beispiel setzt man die durch Kinderlosigkeit gewonnene Freiheit als Gesellschaft nicht mehr gerne aufs Spiel. Hinzu kommt der innere Anspruch, dass man heute enorm viel in jedes einzelne Kind investiert: Mit ihm zum Fussball, Hockey, Klavierunterricht fährt und teuren Nachhilfeunterricht ermöglicht. Das macht grosse Familien weniger attraktiv. Solche tiefen kulturellen Muster zu verändern, ist enorm schwierig.

Könnte die nächste Generation nicht wieder eine Gegenbewegung starten? Kinder wollen oft etwas ganz anderes als ihre Eltern.
Vielleicht! (lacht) Das wäre tatsächlich unsere beste Chance: eine rebellische Generation, in der kinderreiche Familien wieder zur Norm werden. Ob es so kommt? Wer weiss.

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Big Ghän
22.11.2025 15:52registriert Januar 2024
Mit den abartigen Preisen für Mietwohnungen und Krankenkassen können viele sich das auch schlicht nicht mehr leisten. Die Gründe lasse ich mal aussen vor, sonst heisst es wieder das ist nicht das Thema.
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GarChest
22.11.2025 15:26registriert April 2025
Wir brauchen nicht mehr Menschen.
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Overton Window
22.11.2025 15:18registriert August 2022
Das ist eine gute Entwicklung, und es muss absolut nichts dagegen unternommen werden. Im Gegenteil, es hat absolut und ohne jeden zweifel um Faktoren zuviele Menschen auf dem Planeten.

Und eine Reduktion auf 1-2 Mia über ein paar Jahrhunderte ist auch demographisch absolut verkraftbar.
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