Oberste Ärztin der Schweiz: «Es gibt offensichtliche Fehler im neuen Tarif»
Ab Januar gilt in der Schweiz ein neuer Ärztetarif für sämtliche ambulanten Leistungen. Das beschäftigt aktuell die Betroffenen stark. Viele Ärztinnen und Ärzte äussern Bedenken. So steht im Raum, dass Kinder häufiger narkotisiert werden müssen, weil die Untersuchung und die Behandlung des Mittelohrs nicht in derselben Pauschale enthalten sind. Andere Ärzte erklären rund heraus, dass sie gewisse Leistungen schlicht nicht zu diesem Preis erbringen werden.
Frau Gilli, müssen Patientinnen und Patienten ab 2026 mit minderer Behandlung oder schlechterer Qualität rechnen?
Yvonne Gilli: Diese Drohungen tun mir weh. Es gibt offensichtliche Fehler im neuen Tarif. Wenn bei Kindern eine Rachenmandel nicht im selben Eingriff herausgenommen werden kann, wie ein Röhrchen ins Trommelfell eingesetzt wird, dann läuft etwas falsch. Die beiden Behandlungen gehören zusammen, um das Mittelohr besser zu belüften. Eltern müssen nicht akzeptieren, dass ein Kind deswegen zweimal narkotisiert wird.
Wie lässt sich das sicherstellen?
Alle Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, sorgfältig zu arbeiten. Sie orientieren sich an medizinethischen Kriterien und können sanktioniert werden, wenn sie das nicht tun. Eine Leistung wegen einer Fehltarifierung zu verweigern, ist schlicht inakzeptabel. Kein einziger Hals-, Nasen-, Ohrenarzt macht wegen dieser Fehltarifierung Konkurs.
Können sie garantieren, dass die Umsetzung des Tarifs nicht zum Nachteil der Patientinnen und Patienten passiert?
Ja. Wir haben eine sehr hohe Versorgungsqualität in der Schweiz. Das schlimmste, was einer Patientin, einem Patienten passieren kann: Dass sie oder er stationär im Spital behandelt wird anstatt ambulant. Mit dem neuen Tarif sind ambulante Leistungen in der freien Praxis zum Teil defizitär. Das ändert sich erst auf 2027 oder 2028.
Die einen wollen Leistungen nicht mehr erbringen. Andere haben angekündigt, dass sie Verdienstausfälle auf anderen Wegen wieder ausgleichen wollen. Was halten sie davon?
Ein Teil der Verdienstausfälle ist explizit erwünscht. Gewisse Fachbereiche verdienen weniger, weil sie bisher zu viel erhalten haben. Die Tarife waren zu hoch.
Können sie verstehen, wenn einzelne das nicht akzeptieren?
Nein. Es schädigt das Vertrauen, wenn sie öffentlich erklären, aufgrund geänderter Tarife nicht mehr die nötige Qualität zu erbringen oder eine Behandlung ganz auszuschlagen.
Ärzte und Ärztinnen verdienen in der Regel gut.
Ja – aber es gibt grosse Unterschiede. In der Vergangenheit waren Gespräche untertarifiert, während gewisse technische Leistungen übertarifiert waren. Das wird jetzt korrigiert. Alle Ärztinnen und Ärzte benötigen einen korrekten Tarif, um für ihre Patientinnen und Patienten gut zu arbeiten.
Sie sagen, Fehler im Tarif würden ausgemerzt. Ist das ein Versprechen?
Ja. Das ist der Vorteil am neuen Tarif: Wir können nachbessern. Früher brauchte es für jede Änderung Einstimmigkeit. Das blockierte das ganze System. Jetzt reicht eine Mehrheit.
Der Bundesrat hat für die Einführung der Tarife ein Kostendach vorgegeben. Wenn nun einige ihre Ausfälle kompensieren, steigt das Volumen. Fürchten sie einen Kostenschnitt für alle?
Das wollen wir unbedingt verhindern. Es braucht sicher drei bis fünf Jahre, bis die neuen Tarife eingeschliffen sind. Was uns Sorgen bereitet, ist das sehr enge Korsett des Bundesrats, das auch berechtigte Kostensteigerungen nicht berücksichtigt. Wir fürchten, dass dies mittelfristig die Qualität beeinflussen kann, wenn wir es nicht schaffen, die Fehler im neuen System zu bereinigen und faire Tarife durchzusetzen.
Bei all dem Ärger: Hat es sich gelohnt? Ist der neue Tarif wirklich besser als der alte?
Ja, der neue ambulante Tarif Tardoc ist besser, weil er die Realitäten abbildet und weil er dynamisch ist. Er basiert zudem auf einem breiten Konsens: Sämtliche Fachgesellschaften haben an diesem Tarif mitgearbeitet und in einem basisdemokratischen Prozess darüber entschieden. Worüber wir uns ärgern, sind zwei Dinge: Die Hauruck-Übung mit den ambulanten Pauschalen und das enge Kostenkorsett des Bundesrats.
Was ist mit den Pauschalen?
Wir haben stets davor gewarnt, diese so früh einzuführen, weil sie nicht ausgereift und höchst fehlerhaft sind. Sie enthalten weder Daten aus der ambulanten Praxis noch ärztliche Expertise. Das ist sehr ärgerlich. Wir müssen diesen Entscheid des Bundesrats ausbaden.
Welche Rückmeldungen erhalten Sie?
Wir spüren eine Verunsicherung, gar Angst. Die Einführung des neuen Tarifs ist ein gigantisches Projekt für alle Praxen und Ambulatorien. Die Infrastruktur- und Personalkosten laufen weiter – ohne zu wissen, ob das nötige Einkommen für eine funktionierende Praxis wieder erwirtschaftet werden kann. Auch die IT muss neu aufgesetzt werden. Das ist alles mit grossen Unsicherheiten behaftet.
Liegt der Ärger nicht darin, dass viele weniger verdienen?
Der Ärger drängt bei vielen an die Oberfläche, die sich nun mit dem Tarif befassen, ihn aber noch nicht ganz durchschauen. Für gewisse Fachgesellschaften eröffnet der Tarif neue Chancen.
Für die Hausärztinnen und Hausärzte?
Ja, sie waren über Jahrzehnte benachteiligt gegenüber den Spezialisten. Für sie haben wir klare Besserstellungen erreicht, etwa in der Betreuung von chronisch Kranken. Gleichzeitig haben wir die Zeitlimitationen gelockert, um bessere Gespräche mit den Patienten zu führen, davon profitiert auch die integrative Medizin und die Palliativmedizin.
Aber?
Wir sehen nun, dass niemand mehr auf Verbesserungen vertraut. In der Vergangenheit erlebten wir Blockaden und Eingriffe des Bundesrats. Jetzt brauchen wir etwas Geduld, bis das System funktioniert.
Nach der Tarifeinführung kommt die zweite Grossreform, die einheitliche Finanzierung. Sind wir gesundheitspolitisch auf einem guten Weg?
Das sind gigantische Projekte, die viel Verunsicherung auslösen. Deshalb braucht es jetzt einen Reform-Stopp. Wir brauchen keine neuen Massnahmen. Wir sollten die Projekte umsetzen und schauen, wie sie wirken.
Von welchen unnötigen Reformen sprechen sie?
Im Parlament sind zig Vorstösse hängig. Dabei hat es unlängst zwei Kostendämpfungspakete beschlossen, die höchst zweifelhafte Wirkung haben. Nur als Beispiel: Im ersten Paket hat es ein Qualitätsgesetz beschlossen, im zweiten schreibt es Qualitäts- und Kostenziele vor – zwei Massnahmen, die nicht aufeinander abgestimmt sind. Die Patienten profitieren nicht und wir haben neuen administrativen Aufwand.
Die Prämienlast steigt. Wo sollen wir sparen?
Die Prämienlast ist zunächst eine Frage des sozialen Ausgleichs. Die starke Belastung einzelner Haushalte ist dem System der Kopfprämie geschuldet. Die Gesamtkosten sind in der Schweiz nicht höher als anderswo. Andere Staaten haben die Kostenlast einfach geschickter verteilt.
Sparen müssen wir nichts?
Doch, aber nur dort, wo es die Qualität unterstützt oder gar verbessert. Die Ärztinnen und Ärzte haben beispielsweise aus eigener Initiative smarter medicine gefördert. Das sind Listen mit fünf Behandlungen, die den Patienten gar nichts nützen. Beispielsweise braucht es bei akuten Rückenschmerzen ohne medizinische Alarmzeichen nicht beim ersten Termin bereits ein MRI.
Und wenn der Patient ein solches einfordert?
Dann ist das ärztliche Gespräch wichtig. Meine Erfahrung ist: Patientinnen und Patienten wollen in der Regel keine unnötigen Behandlungen, wenn sie korrekt über Vor- und Nachteile informiert werden. Zunehmend beeinflusst die künstliche Intelligenz diesen Entscheid.
Wie?
KI kann die Symptome viel besser erkennen und einordnen. Sie kennt Diagnosen und Behandlungsvorschläge.
Und das ist hilfreich?
Ja, es ist viel besser als Dr. Google. Viele Patienten kommen mit einem gestärkten Vorwissen. Und ich kann mit ihnen auf einer ganz anderen Ebene diskutieren.
Sind Sie noch häufig in der eigenen Praxis?
Jeweils samstags, ja. Da sehe ich all die Mühsal der neuen Tarifordnung. Auch der Patientenkontakt ist hilfreich, weil ich die neuen Patientenbedürfnisse direkt erfahre.
Was ist neu?
Wir sehen eine starke Kostensteigerung bei jungen Patientinnen und Patienten: Sie sind gesund, lassen sich aber schneller verunsichern und gehen häufiger zum Arzt.
Woran liegt das?
Es gibt verschiedene Gründe. Neue Gadgets wie Apple-Uhren messen und kontrollieren alles, geben Veränderungen an – beispielsweise Herzrhythmusstörungen. Und das kann verunsichern. Vor allem führt es zu einer unmittelbaren Kostensteigerung, weil es spezialärztliche Abklärungen nach sich zieht, um seltene Erkrankungen auszuschliessen. Wir stellen fest, dass das Grundvertrauen in den eigenen Körper bei vielen Jungen abgenommen hat. Es braucht viel, um diese Sicherheit wieder herzustellen.
Die Ärztin muss alle Risiken ausräumen?
Ja. Das hat die erwähnten gesellschaftlichen Gründe. Wir sehen aber zunehmend eine rechtliche Komponente. Die Diagnose einer typischen Migräne ist beispielsweise nicht sehr komplex. Bei einer Person, die sehr ängstlich ist, werden heute aber bei einer Erstdiagnose viel mehr Tests gemacht, um alle möglichen Katastrophenszenarien auszuschliessen. Wegen Sorgfalts- und Haftpflichtfragen kommt man kaum mehr darum herum. Das verunsichert junge Ärztinnen und Ärzte.
Schreckt das auch ab?
Wir stehen vor herausfordernden Zeiten. Viele machen ihren Job gerne. Doch es reicht nicht. Aktuell importieren wir 70 Prozent aller neuen Ärztinnen und Ärzte aus dem Ausland. Und trotz Aufstockung der Studienplätze bilden wir nach wie vor viel zu wenige aus. Bei der Bedarfsrechnung von 1200 ausgebildeten Ärztinnen und Ärzten pro Jahr hat der Bundesrat schon im Jahr 2011 nicht beachtet, dass damals schon jährlich über 1900 aus dem Ausland kamen. Gerade das Problem des Hausärztemangels können wir nur aus eigener Kraft lösen. Und nur so lässt sich auch die Qualität langfristig sichern.
Wie meinen sie das?
Weil in anderen europäischen Ländern ebenfalls Mangel herrscht, holen wir Fachkräfte von immer weiter her. Das führt dazu, dass sogar auf der Psychiatrie Ärztinnen und Ärzte arbeiten, die keinen Satz Deutsch korrekt sprechen.
