Franz* bricht ein Tabu und sein Schweigen
«Heute habe ich das Trennungsbegehren zur Post gebracht», sagt Franz*. Darüber freuen könne er sich nicht. Mit ausdruckslosem Blick starrt er auf die Kaffeetasse in seinen Händen, als er sagt:
Franz redet von Lula*, seiner Noch-Ehefrau. Zwanzig Jahre lang war er mit ihr zusammen. Neun Jahre davon verheiratet. Seinen Lebensabend hat er sich an ihrer Seite vorgestellt. Doch daraus wird nichts. Mit seinen 69 Jahren wohnt er seit einem Monat im Luzerner «Zwüschehalt», einer von schweizweit nur drei geschützten Unterkünften für Männer, die Opfer von häuslicher Gewalt geworden sind.
Ruhe vor dem Sturm
In einem Café in der Stadt Luzern erzählt Franz seine Geschichte. Er spricht langsam. Wägt jedes Wort behutsam ab. So wie er es in den letzten zwanzig Jahren gelernt hat. Bei Lula habe ein falsches Wort, eine falsche Betonung, ein falscher Gesichtsausdruck ausgereicht, und sie sei an die Decke gegangen. «Im einen Moment assen wir friedlich zusammen Znacht, im nächsten schrie sie auf mich ein.»
Sogar Nachbarn hätten ihn indirekt auf den Lärm zu Hause angesprochen. Denn Lulas Tobsuchtsanfälle, wie Franz sie bezeichnet, hätten Stunden anhalten können. Stunden, in denen sie ihn beleidigte, ihm drohte, ihm den Tod wünschte, ihm Vorwürfe machte. «Sie hörte einfach nicht auf», sagt Franz und seine Stimme bricht.
Was sie ihm in ihrer Rage alles an den Kopf warf, kann Franz nicht mehr wiedergeben. Zu viel, zu verletzend, zu überfordernd seien ihre Worte jeweils gewesen. Er weiss nur:
Trotzdem ist es Franz wichtig, einzuwerfen: «Es gab auch schöne Momente.» Sogar sehr viele schöne Momente. Immer wieder. Doch die friedlichen Phasen hielten nie an. Gegen den Schluss nicht einmal länger als eine Woche. «Dann hat es wieder gräblet.»
So wie Franz das beschreibt, klingt es harmlos. Bei wem hat es zu Hause noch nie «gräblet»? Aber was Franz erlebt hat, ist häusliche Gewalt. Und mit dieser Erfahrung ist er nicht allein. Gemäss Polizeistatistik des Bundes waren im vergangenen Jahr 11’849 Personen von häuslicher Gewalt betroffen, wobei die Dunkelziffer hoch geschätzt wird. Seit Jahren liegt der Anteil männlicher Opfer von häuslicher Gewalt stabil bei 30 Prozent.
Hätte Franz in den letzten Jahren nicht angefangen, die Vorfälle für sich zu dokumentieren, würde er sich an die meisten nicht mehr erinnern. Auf seinem Handy kann er Screenshots einer Woche zeigen, in der Lula ihm hunderte Nachrichten schickte. Hasserfüllte Nachrichten. Vorwürfe. Todeswünsche. Auch Fotos von Kratzspuren und blauen Flecken, die Lula ihm zugefügt hat, kann er zeigen, sowie Arztberichte, die seine Verletzungen dokumentieren.
Dabei hat alles eigentlich schön angefangen.
Verfolgung in die Schweiz
Nach der Scheidung von seiner ersten Ehefrau ging Franz auf Reisen in Südamerika. Dort lernte er die zehn Jahre jüngere Lula kennen. Die beiden verliebten sich. Doch Franz glaubte nicht, dass mehr als ein Flirt daraus entstehen könnte.
Zurück in der Schweiz überraschte ihn Lula, indem sie ihm nachgereist war. Die beiden begannen eine Beziehung. Kurz darauf wurde Lula schwanger. «Ich wollte eigentlich nicht nochmals Vater werden», sagt Franz. Aber er habe die Situation angenommen. Sich auf seinen Sohn, das gemeinsame Familienleben gefreut.
Anzeichen auf missbräuchliches Verhalten habe es schon früh gegeben. «Aber ich habe alles kleingeredet.» Seine Alarmglocken schellten zum ersten Mal, als der gemeinsame Sohn etwa ein Jahr alt war. Franz kam an einem Mittag von der Arbeit nach Hause. Schon draussen, vor dem Mehrfamilienhaus, hörte er Lula schreien. Obwohl die Familie im fünften Stock wohnte.
In der Wohnung fand Franz ein Chaos vor: Essensreste klebten an den Wänden, der Sohn weinte, Lula schrie und warf mit Gegenständen um sich. Er versuchte, sie zu beruhigen. Erfolglos. «Ich machte mir Sorgen um sie.» Also habe er den Notfallarzt angerufen. Dieser konnte erst am Abend vorbeikommen. Kurz vor seinem Eintreffen verliess Lula die Wohnung. Sie wollte keinen Arzt.
Also machte Franz für Lula einen neuen Termin aus. Auf der Fahrt in die Praxis begann Lula abermals zu toben, öffnete die Beifahrertür und wollte sich aus dem fahrenden Auto werfen. «Ich musste eine Vollbremse machen. Ich hatte solche Angst um sie», sagt Franz.
Zu Szenen wie diesen kam es fortan immer wieder.
Gegenseitige Anzeigen
In seinen Notizen kann Franz nachlesen, dass häufig Gegenstände durch die Wohnung flogen. Dass er Lula mehrere Male ein neues Handy kaufen musste, weil sie es in ein Fenster, gegen Möbel oder auf den Boden geworfen hatte. Zweimal soll Lula auch die Frontscheibe seines Autos zertrümmert haben.
Mehrere Male musste die Polizei ausrücken, um die Situation zu beruhigen. Nur ein Mal zeigte Franz Lula wegen Tätlichkeit an, nachdem sie ihm eine Ohrfeige gegeben und in beide Schienbeine getreten hatte. Es kam zu einer Verurteilung mit Busse. Die schlussendlich Franz als Lulas Ehemann bezahlen musste, weil Lula kein eigenes Einkommen hatte. Sie ging und geht noch immer keiner bezahlten Arbeit nach.
Ein anderes Mal habe Lula ihn angezeigt. Weil er sie geschlagen habe. «Das stimmt auch», sagt Franz. Davor jedoch habe sie ihm drei Mal ins Gesicht geschlagen. Jener Vorfall sei das einzige und letzte Mal gewesen, dass er sich physisch gegen Lula gewehrt habe. Auch verbal habe er sich mit der Zeit immer weniger gegen ihre Vorwürfe verteidigt. Weil die Lage sonst nur noch mehr eskalierte.
Betroffene Männer können sich an die Anlaufstelle Zwüschehalt oder an das Männerbüro Zürich wenden.
Bei Straftaten im Ausland können Schweizer Staatsangehörige die Helpline des EDA kontaktieren: +41 800 24 7 365.
Suche nach Erklärungen
Franz sagt:
Denn wie sollte die Person, die ihm «Ich liebe dich» sagte, ihm gleichzeitig an den Kopf werfen können «Ich hoffe, du stirbst!»? Das passte nicht zusammen.
Auf der Suche nach einer Erklärung spaltete Franz Lula in zwei Personen ab. Auf der einen Seite gab es die liebevolle, herzliche, lustige, attraktive Frau, in die er sich verliebt hatte. Auf der anderen Seite gab es die tobende, verletzende, rachsüchtige Frau. Letztere kam nur zum Vorschein, weil es ihr nicht gut ging, glaubte Franz. Er müsse ihr nur die passende Unterstützung geben, dann wäre alles wieder gut.
Ein Trugschluss. Das weiss Claudia Wyss, Leiterin der Anlaufstelle gegen Häusliche Gewalt Aargau. Sie arbeitet sowohl mit Opfern als auch Tätern zusammen und beobachtet immer wieder, wie die Opfer Erklärungen für die Gewalt suchen. Während die Täter ein klares Muster verfolgen: «Sie lassen die Opfer im Glauben, sie hätten die Gewalt verdient. Hätten sie sich nur anders verhalten, wäre es nicht zu ihrem Ausraster oder jener Ohrfeige gekommen.» So könnten sie die Verantwortung an der Gewalt auf das Opfer schieben.
Mehrere Jahre besuchte Franz eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Personen mit einer bipolaren Störung. In der Hoffnung, so zu lernen, wie er Lula besser unterstützen könnte. Die Selbsthilfegruppe half ihm nur mässig. Die Rede sei immer davon gewesen, sich von den Betroffenen abzugrenzen. Doch das sei in der Praxis schwierig gewesen. Dass Lula eine bipolare Störung haben könnte, war seine eigene Vermutung aufgrund ihres Verhaltens gewesen. Eine ärztliche Diagnose dafür liegt jedoch bis heute nicht vor.
Typische Gewaltspirale
Wie oft er für einige Tage in den Wohnwagen, zu Freunden oder Angehörigen flüchtete, weil er es zu Hause nicht mehr aushielt, kann Franz heute nicht mehr sagen. Er weiss nur:
Doch dann hätten Lula und er sich wieder getroffen, um über alles zu sprechen, und Lula sei plötzlich wieder liebevoll gewesen. Die Frau gewesen, die er einst kennengelernt hatte. In die er sich verliebt hatte. «Das gab mir jeweils Hoffnung», sagt Franz. Also sei er geblieben. Immer wieder. Auch wenn alle in seinem Umfeld sagten, er müsse sich trennen.
Das Muster, das Franz beschreibt, beobachtet Claudia Wyss in der Opferberatung häufig. Es gibt sogar einen Fachbegriff dafür: Gewaltspirale. «Auf die Eskalation folgt eine schöne Phase, die einen wieder an die Person bindet», sagt Wyss. «Honeymoon-Phase», also «Flitterwochen-Phase» werde diese genannt, weil sich die Partnerschaft in dieser Zeit so schön anfühle.
Der Frieden sei jedoch nie von Dauer. «Langsam baut sich die Spannung wieder auf, das Opfer läuft wie auf Eierschalen, um bloss keine Eskalation zu provozieren. Doch die Eskalation kommt unausweichlich», sagt Wyss. Aus dieser abhängig machenden Dynamik herauszukommen, sei extrem schwierig. Deshalb bräuchten die meisten Opfer von häuslicher Gewalt mehrere Anläufe, um sich zu trennen.
Auch heute sagt Franz über Lula:
Aber er habe keine andere Wahl gehabt.
Hausärztin schlägt Alarm
Der Wendepunkt kam diesen September. Nach einer Auseinandersetzung mit Lula verspürte Franz in seinem linken Auge einen plötzlichen, stechenden Schmerz. Ein Besuch bei der Hausärztin offenbarte eine geplatzte Ader im Auge und einen massiv erhöhten Blutdruck.
Seine Hausärztin, die schon einige seiner von Lula verursachten Verletzungen dokumentiert hatte, hielt ihn deshalb zum wiederholten Mal an, sich von ihr zu trennen. «Sie sagte, sonst platzt irgendwann eine andere Ader als nur im Auge», sagt Franz. Das sei sein Weckruf gewesen.
Anfang Oktober, nach einer erneuten Auseinandersetzung mit Lula, flüchtete Franz zunächst zu Verwandten. Dann fand er Unterschlupf im Zwüschehalt, wo er seither lebt.
Komplett den Fängen von Lula ist er aber noch nicht entkommen. Jeden Tag schreibt sie ihm SMS oder Mails. Anders als früher erhalte er jetzt aber nette, harmlose Botschaften. «Ich liebe Dich», steht beispielsweise darin. Oder: «Gute Nacht.»
Lulas Nachrichten machen es Franz schwer, nicht doch wieder Hoffnung zu schöpfen, dass sie sich ändern könnte. Deshalb versucht er, sie möglichst nicht zu lesen. Was ebenfalls nicht hilft: Direkt nach der Trennung suchte Lula Franz immer wieder bei der Arbeit auf. Brachte etwa einen Kuchen vorbei. Wollte reden. Auch wenn Franz ihr mehrmals mitgeteilt hat, sie solle ihn in Ruhe lassen.
«Wenn ich sie sehe, schiesst mein Puls sofort in die Höhe.» Das sei für ihn ein klares Zeichen des Körpers, dass die Beziehung ihm nicht guttue. Inzwischen hätten die unerwünschten Besuche zum Glück aufgehört. Ein Kontakt- und Rayonverbot zu beantragen, hält Franz deshalb nicht für nötig. Auch wenn er erst kürzlich erfahren hat, dass Lula ihn mit einer App auf seinem Handy trackte. Wie lange schon, das weiss er nicht.
Franz sagt:
Statistisch gesehen mag diese Einschätzung einleuchten. Wie eine neuste Auswertung des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung ergeben hat, sind die Opfer von vollendeten und versuchten Tötungsdelikten in einer ehemaligen oder bestehenden Paarbeziehung zu 93 Prozent Frauen – sowie die Tatverdächtigen vorwiegend Männer.
Expertin Claudia Wyss rät dennoch, Drohungen immer ernst zu nehmen, egal ob sie von einer Frau oder einem Mann ausgehen. Denn unabhängig vom Geschlecht hätten gewaltausübende Personen eines gemeinsam:
Im Zwüschehalt fühlt sich Franz wohl, sicher, erholter. Seit heute Morgen ist die Anspannung in seinem Körper aber wieder zurück. «Ich habe Angst, wie sie auf das Trennungsbegehren reagieren wird», sagt Franz. Er hoffe nach wie vor auf eine gütliche Lösung. Aber so, wie er Lula kenne, sei das eher unwahrscheinlich.
Es werde also voraussichtlich auf eine Scheidung herauslaufen. Ein Verfahren, das sich mehrere Jahre hinziehen kann. Und das viel Geld kosten wird. Geld, das er als Selbstständiger ohne Pensionskasse kaum habe. Einen Lichtblick hat Franz jedoch: Er kann auf die Unterstützung von Freunden und Familie zählen. Selbst von Freunden, von denen er sich in den letzten Jahren wegen Lula entfernt hatte. «Sie freuen sich, habe ich es endlich geschafft, zu gehen.»
* Name zum Persönlichkeitsschutz geändert.
