Das Wort ist mittlerweile von den Wirtschaftsseiten ins Feuilleton gewandert: Uberisierung. Darunter versteht man eine einfache Formel: Bestehende Güter und Dienstleistungen werden mit einer App versehen – und presto, schon ist die neue Unabhängigkeit geschaffen.
Das gilt nicht bloss für den wirtschaftlichen Bereich, wo aus Angestellten unverhofft Unternehmer werden. Uber ist ein Synonym geworden für ein neues Lebensgefühl und für ein neues Verständnis von Gesellschaft.
Das Privatauto ist der logische Ausgangspunkt für die Uberisierung, schliesslich steht es die meiste Zeit ungenutzt in der Garage, und es ergibt tatsächlich Sinn, diese ungenutzte Ressource effizienter einzusetzen. Doch die Uber-Formel lässt sich auf fast alle Bereiche der Wirtschaft anwenden: Ob Journalistin oder Rechtsanwalt, ob Banker oder Sekretärin, alles kann heute uberisiert werden – und wird es teilweise schon. Eine neue Schicht von Dienstleistungspersonal ist am Entstehen, Menschen, die für andere einkaufen, in der Schlange stehen, oder eben Taxi fahren.
Die Uberisierung stellt unsere traditionelle Vorstellung von der Arbeitswelt auf den Kopf. Wenn jeder sein eigener Unternehmer wird, werden geregelte Arbeitszeiten, ein eigener Arbeitsplatz oder gar ein eigenes Büro, Sozialleistungen und Schutz vor Krankheit und Unfall zu Auslaufmodellen.
Der uberisierte Mensch hat auch keine Ferienansprüche, braucht keine Infrastruktur, ist in keiner Gewerkschaft organisiert und bis zur Schmerzgrenze flexibel. Margaret Thatcher bekommt endlich Recht. Uberisierung heisst auch: Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen.
«Arbeit adelt» lautete einst das Motto des Bürgertums im Kampf gegen den Feudalismus. Die Vorstellung von «Beruf» ist typisch für die aufstrebende, kapitalistische Gesellschaft. In vielen anderen Kulturen würde sie Unverständnis oder gar Spott auslösen. Ein Aristokrat etwa macht sich die Hände nicht schmutzig, deshalb hat er auch «blaues Blut» in den Adern. (Der Ausdruck stammt davon, dass man bei sauberen Händen stets die Venen sieht, wo das Blut einen Stich ins Blaue hat.)
Der Begriff «Beruf» stammt aus dem religiösen Bereich und wurde von Luther in die deutsche Sprache eingeführt. Luther leitet Beruf von Berufung ab. Er versteht darunter die Hinwendung zur Welt, als Gegensatz zur mönchischen Lebensführung, die sich nur auf das Jenseits bezieht. Selbstdisziplin und ein geregelter Tagesablauf sind für den gläubigen Protestanten wie für den Mönch von grosser Bedeutung. Das zeigt der Soziologe Max Weber in seiner legendären Schrift «Die protestantische Ethik» auf.
Der zum Berufs-Adligen gewordene Bürger treibt die neue Wirtschaftsordnung, die Marktwirtschaft voran. «Ein spezifisches bürgerliches Berufsethos war entstanden», stellt Weber fest. «Mit dem Bewusstsein, in Gottes voller Gnaden zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, vermochte der bürgerliche Unternehmer (...) seinen Erwerbsinteressen zu folgen und sollte dies tun.»
Der junge Kapitalismus war erfolgreich, aber krisenanfällig. Zunächst war es noch möglich, in Rezessionen die überfälligen Arbeitskräfte in die «leeren Kontinente» USA und Australien abzuschieben. Das wurde immer schwieriger. Mit fortschreitender Industrialisierung wuchs zudem auch das Selbstbewusstsein der Arbeiter. Sie begannen, sich in Gewerkschaften und sozialistischen Parteien zu organisieren.
Um soziale Unruhen oder gar Revolutionen zu verhindern, begann in Deutschland schon der «eiserne Kanzler» Otto von Bismarck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine minimale Altersvorsorge für alle aufzubauen. Der moderne Sozialstaat entstand nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Angst vor dem realen Kommunismus der UdSSR und der Respekt vor dem hohen Blutzoll machten es möglich, dass soziale Leistungen und Krankenkasse genauso selbstverständlich wurden wie steigende Löhne und kürzere Arbeitszeiten.
In den 30 goldenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte im Westen weitgehend Vollbeschäftigung. Ein anschwellender Mittelstand mit steigender Kaufkraft hielt die Wirtschaft in Schwung und sorgte für sozialen Frieden. Seit dem Fall der Berliner Mauer ist die Gefahr des Kommunismus gebannt. Gleichzeitig haben die Jahrzehnte des Neoliberalismus und Shareholder Value das soziale Kapital schmelzen lassen.
All dies hat den Boden für eine Ubersierung vorbereitet. Der Sozialstaat ist in Verruf geraten. Unterschichtsfernsehen und Boulevardpresse berichten täglich von Sozial-Schmarotzern, Ökonomen warnen davor, dass der Sozialstaat unbezahlbar geworden sei. Der Nachtwächterstaat aus dem 19. Jahrhundert feiert ein Comeback.
Friedrich von Hayek, der geistige Vater des Neoliberalismus, hat in seinem bekanntesten Werk den Sozialstaat als «Weg in die Knechtschaft» bezeichnet. Die Ubergesellschaft erscheint als das moderne Gegenmodell mit einem verlockenden Versprechen. Es lautet: Mithilfe moderner IT kann jeder Mensch ein Unternehmer sein. Der Sozialstaat wird überflüssig, jeder ist der Schmied seines eigenen Glücks.
Dumm bloss, dass die Realität nicht mitspielt. Ausgerechnet die Länder mit der sozialsten Marktwirtschaft haben die Krise am besten bewältigt. Länder wie Dänemark, Schweden, Deutschland und – ja, auch die Schweiz.