Mein Experiment startet am Sonntagabend. Ich schliesse das Nokia-Handy an die Steckdose und drücke die orangefarbene Einschalttaste. Das Display leuchtet auf – ich soll die Sim-Karte einlegen. Also entnehme ich die Sim-Karte aus dem schmalen Kartenschlitz meines Smartphones und öffne die Rückseite des Nokia-Handys. Beim Blick auf die silberne Metallschiene, in die ich die Sim-Karte stecken soll, erkenne ich das erste Problem.
Meine Sim-Karte ist viel zu klein, sie passt nicht. Klar, daran hätte ich auch früher denken können. Ich versuche es trotzdem: Lege die Karte auf die Platine, platziere den Akku darüber und schalte das Nokia wieder ein. «Sim-Karte einlegen». Okay, ich muss mir erst einen Sim-Karten-Adapter zulegen.
Stolze zehn Euro kostet der Adapter. Nano-Sim, Micro-Sim, normale Sim-Karte. Für alles hat das Set einen Adapter und zusätzlich noch einen Metallstift, um den Kartenschlitz in modernen Smartphones aufzubekommen. Das orange-blaue Nokia akzeptiert meine Bemühungen und jetzt auch meine Sim-Karte.
Mit 14 bekam ich mein erstes Handy. Was es genau war, weiss ich nicht mehr, nur, dass es blau war und eher wie ein Babyfon aussah. Aktuell habe ich ein Samsung S8 und wie das aussieht, weiss ich genau, denn ich schaue täglich darauf. So oft, dass es mich selbst schon nervt und ich daran etwas ändern will. Deshalb halte ich jetzt dieses blaue Nokia 3510 in der Hand.
An die Bedienung gewöhne ich mich schnell wieder. Zweimal drücken für ein H, einmal für ein A, Dreimal die 5 drücken für ein L, warten, wieder drücken, dreimal die Taste sechs drücken für ein O. Früher ging das blind, heute muss ich dann doch auf die Tastatur blicken und jedes Mal ertönt ein leises Klicken.
Nach der Eingewöhnungsphase geht’s ans Einrichten. Wichtige Rufnummern abspeichern, Wecker stellen. Nur eine Weckzeit ist verfügbar – ob das gut geht? Normalerweise gehöre ich zu den Menschen, die mindestens drei Weckzeiten eingestellt haben. Auch die Kalenderfunktion ist eher spartanisch.
Das Handy vibriert – eine SMS von meinem Mobilfunkanbieter: «Lieber Kunde, jetzt können Sie auch MMS empfangen». MMS? Das gibt es noch? Ich erinnere mich nicht je eine MMS verschickt zu haben, viel zu teuer und ich bezweifle, dass ich die auch diesmal benutzen werde. Die SMS-Funktion dagegen wird später noch wichtig werden – das weiss ich zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht.
Ich klicke mich wieder durchs Menü und bekomme kurz einen Schreck. Eine blaue Weltkugel strahlt auf dem Display – hier geht’s ins Internet. Nicht draufklicken ist mein erster Gedanke. Erinnerungen an Schweissperlen auf der Stirn und hektisches Drücken der Zurücktaste tauchen auf. Damals gab es noch keine Datenflatrates und jede Minute im Internet kostete extra. Das konnte teuer werden. Faszinierend, wie sich solche Erlebnisse in einem festsetzen können. Doch dann wird mir wieder bewusst, dass eine Sim-Karte mit mehreren Gigabyte Datenvolumen in diesem kleinen Nokia steckt – Erleichterung.
Am nächsten Morgen. «Ring. Ring». Das kleine Nokia weckt mich zuverlässig um sieben Uhr, angenehm ist aber etwas anderes. Direkt als ich die Tür öffne und mich die kalte Berliner Luft erfasst, merke ich das erste Mal, dass mir mein Smartphone fehlt. Normalerweise höre ich auf dem Weg zur Arbeit meine Lieblingspodcasts. Jetzt höre ich nur den Autolärm der Grossstadt und das Quietschen der S-Bahn-Bremsen. Auch meine abonnierte Zeitung kann ich an diesem Morgen nicht lesen, denn die liegt in Bits und Bytes zerlegt auf meinem Smartphone. Im Büro angekommen merke ich zunächst keinen Unterschied. Bis zur Mittagspause.
Während des Essens private Mails abrufen oder WhatsApp Nachrichten lesen – das ist diesmal nicht drin. Stattdessen starre ich aus dem Fenster auf graue Betongebäude, während ich meine Spaghetti esse. Nicht gerade eine spannende Aussicht und zum Reden ist auch gerade keiner in der Küche. Nur ich und meine Portion Spaghetti. Ich frage mich, wann das eigentlich passiert ist, dass ich ohne zusätzliche Ablenkung noch nicht einmal die Mittagspause verbringen kann?
Das Handy steckt seit dem Morgen in der Tasche. Mein Smartphone hätte ich schon mehrmals in der Hand gehabt. Zwischen drei und vier Stunden nutze ich mein Smartphone täglich. Über 30 Mal entsperre ich es. Das ist die schonungslose Bilanz einer Tracking-App auf meinem Smartphone, die genau misst, welche Apps ich benutze und wie lange. Das soll helfen, den eigenen Smartphone-Gebrauch einzuschränken, neudeutsch heisst das: «Digital-Detox». Für das alte Nokia brauche ich eine solche App nicht. Wofür sollte ich das alte Handy auch herausholen?
Das merke ich am Nachmittag, denn eine Funktion, die meine Konten vor Unbekannten schützen soll, wird zu meinem grössten Feind an diesem Tag. Ich will meine Mails abrufen, denn ich erwarte an diesem Tag noch ein wichtiges Paket und brauche den Zugangscode für die Packstation. Das Passwort für mein E-Mail-Postfach kenne ich nicht. Ich nutze zufällig generierte Passwörter, die ich in einem Manager verwalte. Das Passwort für den Manager kenne ich noch, aber jetzt habe ich ein echtes Problem – die Zwei-Faktor-Authentifizierung. Diese soll Konten sicherer machen. Neben dem Passwort muss man sich noch auf eine zweite Weise identifizieren. In der Regel einem Zahlencode, der zufällig generiert wird, entweder in einer speziellen App auf dem Smartphone, dem sogenannten Code-Generator, oder per SMS.
Mein Passwort-Manager ist noch so nett und schlägt mir als Alternative zum Code-Generator auf meinem Smartphone vor, mir eine SMS zu schicken. Jetzt kommt das alte Nokia doch noch zum Einsatz. Immerhin, SMS empfangen kann es. Doch ich befürchte, dass mein Mail-Postfach nicht so gnädig ist. Und tatsächlich, ohne den Code-Generator lässt es mich nicht hinein. Wäre das Internet meine Wohnung, wäre ich quasi aus meiner Wohnung hinaus, hätte den Schlüssel drinnen liegen lassen und meine Bankkarte gleich mit. Denn auch Online-Banking funktioniert ohne mein Smartphone nicht.
Wieder zu Hause hoffe ich, mein Problem mit dem Paket noch lösen zu können. Also Laptop aufgeklappt und hochgefahren. Ich öffne meinen E-Mail-Client und endlich, ohne kompliziertes Passwort und Code-Generator, da ist die E-Mail. Ich notiere mir die Abholnummer auf einem weissen Zettel. Die Abholstation finde ich sogar, ohne mich von Google Maps navigieren zu lassen – an der Station laufe ich täglich vorbei.
Die Packstation befindet sich in einem kleinen Kiosk neben Süssigkeiten, Spirituosen, Lotteriescheinen und Zigaretten. Ich frage mich, ob das Smartphone meine Zigarette ist. Wenn ich an der Bushaltestelle stehe, blicke ich auf mein Handy, wenn ich im Supermarkt lange in der Schlange stehe, hole ich das Handy aus der Jackentasche. Beim Essen, im Bus, auf Partys, bei denen man niemanden kennt – das Smartphone ist stets griffbereit.
Bin ich süchtig, oder habe ich einfach verlernt, Momente des Stillstands auszuhalten? Warum ist es so unerträglich geworden, ein Problem nicht direkt mit einem Wisch über die kalte Glasoberfläche lösen zu können?
Was mich betrifft: weil das Smartphone eben mehr ist, als nur ein Gerät zum Telefonieren und SMS schreiben. Für mich ist es Zeitung, Musik-Player, Kalender, Navigationsgerät, Trainer beim Sport, Bank und am wichtigsten: Kontakt zu Freunden und Familie. Natürlich geht es auch ohne Smartphone, und mit einer besseren Vorbereitung und Umstellung wäre auch ein Leben mit dem kleinen orange-blauen Nokia-Handy möglich.
Doch ich bin froh, als ich die Sim-Karte wieder aus ihrem Adapter rausnehme und an ihren ursprünglichen Platz zurückstecke. Verpasste WhatsApp Nachrichten 15, eingegangene E-Mails 9, SMS eine, MMS – keine. Akku des Nokias: 98 Prozent.