Während Hotels, Restaurant und Reiseveranstalter von Kreuzfahrtschiffen bis zu Flugzeuggesellschaften ständig versuchen, ihren Reisenden mehr und besseres WiFi zu bieten, damit diese überall und ständig online sein können, gibt es eine kleine Bewegung, die genau das Gegenteil möchte. Sie ermutigt digitale Vielnutzer, die immer erreichbar sind und unter den Folgen des Informations-Overkills leiden, offline zu gehen und vor der digitalen Flut an E-Mails, Social Media Posts, Nachrichten und Pushmeldungen zu fliehen.
Diese kleine, aber wachsende Zahl an Anbietern kommt natürlich aus Amerika und offeriert sogenannte «Digital Detox»-Programme. Das Ziel: Die Teilnehmer sollen eine Pause von ihren technischen Geräten und der 24/7-Online-Verbindung machen. Und weil uns das immer schwerer fällt, wittern die Anbieter solcher Angebote einen lukrativen Markt. Denn Offline-Sein wird immer mehr zum Luxus.
Beim «Camp Grounded» in den kalifornischen Wäldern gibt man beim Einchecken alles, was einen Screen hat, ab – und los geht das Natur-Erlebnis. Die Camps, die fast etwas Sektenmässiges haben, erinnern an Pfadilager. Nur, dass hier Erwachsene Bogenschiessen, ums Lagerfeuer sitzen, im Kreis singen und gemeinsam wandern und meditieren. Das Motto fernab der Zivilisation und weit weg vom nächsten Computer und Smartphone lautet: «Disconnect to Reconnect». Die Teilnehmer sollen in erster Linie ohne Internet und Handy klarkommen, sie sollen das analoge Leben wieder schätzen lernen, sich auf sich und die Umwelt einlassen. Und im besten Falle lernen sie, den PC und das Internet wieder reflektiert und in gesundem Masse zu nutzen. Eine viertägige Entschlackungskur im Zeltlager kostet rund 600 Dollar.
Es ist schon erstaunlich: Erst will jeder Internet haben, jeder noch ein besseres, grösseres Smartphone und jetzt, da wir das alle haben – in der Schweiz besitzen bereits 98 Prozent der 12- bis 19-Jährigen ein Handy – müssen wir einen Entzug machen, weil das ganze aus dem Ruder läuft. Weil wir uns nicht mehr konzentrieren können, weil wir uns total isolieren von der analogen Welt, weil wir im Netz gefangen sind, stundenlang am Tag auf den Bildschirm starren und keine Stunde ohne unser Mobiltelefon aushalten. Mal ehrlich, könnten Sie ihr Handy einen ganzen Tag ausschalten?
Fünf Prozent der Schweizer Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren können als handysüchtig bezeichnet werden. Dies ergab eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Allerdings ist die Studie «Handygebrauch der Schweizer Jugend – Zwischen engagierter Nutzung und Verhaltenssucht» von 2012, wenn man bedenkt, dass die Jugendlichen derzeit nur noch mit gesenkten Köpfen umherlaufen, dürfte diese Zahl inzwischen massiv zugenommen haben. Symptome: Konzentrationsprobleme, Schlafmangel, leiden an Entzugserscheinungen. Aber auch die «Engagierten Nutzer» (40 Prozent), die als Vorstufe zur Verhaltenssucht gesehen werden können, denken ständig ans Handy, verbringen immer mehr Zeit damit und haben Entzugserscheinungen, wenn sie ihr Handy nicht benutzen können.
Auch bei den Erwachsenen ist es nicht viel besser. Eine aktuelle Umfrage des Unternehmens Motorola in sieben Ländern unter mehr als 7000 Menschen ergab, dass 60 Prozent der Befragten ihr Handy sogar mit ins Bett nehmen. Einer von sechs Smartphone-Nutzern nimmt es auch unter die Dusche. Und 22 Prozent würden eher auf Sex verzichten als auf ihr Smartphone.
Laut Oliver Bolliger, Leiter Beratungszentrum Suchthilfe Basel, ist die Definition betreffend Online-Sucht oder Handy-Sucht nicht so eindeutig. Aber das Handy und das ständige Online-sein stellen eine Realität im heutigen Leben dar, der Umgang damit wolle gelernt sein. Gerade bei Kindern könne die intensive Nutzung zum Problem werden. «Das Handy beziehungsweise das Online-Sein hat sicher ein hohes Suchtpotenzial, viele haben aber das Online-Sein auch im Griff und vernachlässigen die anderen Lebensbereiche nicht», sagt Bolliger. Aber natürlich gebe es die Fälle, wo eine Abhängigkeit entwickelt worden ist (Gamen, Chatten, Foren, Pornokonsum) und die haben in den letzten zwei Jahren zugenommen.
All diesen Betroffenen sollen neue Angebote Abhilfe leisten. Es muss ja nicht gleich so radikal wie ein Camp in Amerika sein. Die Firma Ringly etwa bietet Ringe an, die mit einem Smartphone-Filter verbunden sind. Dieser sorgt für selektive Ruhe. Benachrichtigungen von Gmail oder Facebook werden zurückgehalten, während man die wichtigen Alarme oder Nachrichten vom Liebsten nach wie vor bekommt. Eine weitere Möglichkeit für Handy-Süchtige ist das Nophone, ein Fake-Phone, das optisch und haptisch an ein iPhone erinnert. Schnelle und nachhaltige Heilung verspricht die Therapiemethode Hypno Beep. Die Hypnosetherapie soll Betroffenen helfen, ihr gewünschtes Verhalten im Unterbewusstsein so zu verändern, dass der Griff zum Smartphone in gesundem Mass getätigt wird.
Eine Art Handydiät bietet Ulrike Stöckle mit Digital Detox in Deutschland an. Die Kommunikationswissenschafterin weiss aus eigener Erfahrung, wie stark man von permanenter Erreichbarkeit und ständiger Informationsflut eingenommen werden kann und holte das Entzugsprogramm nach Deutschland. «Einfach das Handy abschalten, kann heute kaum noch jemand», sagt Stöckl, die Offline-Retreats mit Seminar- und Workshopcharakter anbietet. Der Entzug fand schon im Kloster statt, auf Wandertouren oder im Luxushotel. Letzte Woche übernachteten die Teilnehmer unter freiem Himmel, besuchten eine Falknerei und machten eine Nachtwanderung zum Badesee, um sich so vom digitalen Alltagsstress befreien zu können. Wenn jeder Teilnehmer dann im Kreis von seiner Handynutzung erzählt und sich die Teilnehmer selbst einschätzen, erinnert das stark an Sitzungen der Anonymen Alkoholiker.
Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis wir auch hierzulande mit zittrigen Händen in den Schweizer Wäldern um ein Lagerfeuer sitzen, und von einer Art Guru gesagt bekommen, dass die Schweissausbrüche und die Kälteschübe nachlassen und alles besser wird. Es braucht dazu nur ein wenig Zeit – und etwas Geld. (aargauerzeitung.ch)