In der Schweiz träumt vor allem die SVP von einem Schulterschluss der bürgerlichen Parteien, um einer eingebildeten Mitte-Links-Regierung den Garaus zu machen. Sollte dies gelingen, würde in der Schweiz ein solider rechtskonservativer Block einer rot-grünen Opposition gegenüberstehen.
Im Vereinigten Königreich (VK) spielt sich genau das Gegenteil ab: Das traditionelle Zweiparteiensystem zerbröckelt. Die ewige Feindschaft zwischen Konservativen, auch Tories genannt, und Labour ist nach den Wahlen im Mai wahrscheinlich Geschichte. Koalitionen werden auf der Insel bald so normal sein wie auf dem Kontinent.
Das Zweiparteiensystem hat im VK eine lange Tradition. Im 18. und 19. Jahrhundert waren es die liberalen Whigs, die sich mit den Tories um die Macht stritten. Seit dem 20. Jahrhundert hat Labour, die britische Antwort auf die Sozialdemokraten, die Whigs ersetzt. Die heutigen Liberalen, die Lib-Dems, sind zwar Juniorpartner der Konservativen in der Regierung, aber gerade deswegen bös unter die Räder gekommen.
Zwei Gründe haben das Zwei-Parteien-Prinzip auf der Insel so lange erhalten: Das traditionelle britische Klassensystem und das Majorzprinzip. Lange hat das zu fast DDR-artigen Wahlresultaten geführt. Bei den Wahlen von 1951 erzielten die Tories und Labour gemeinsam 97 Prozent der Stimmen.
Davon können heute beide nur noch träumen. Sie müssen bei den kommenden Wahlen froh sein, wenn sie 30 Prozent der Stimmen erhalten werden. Aus dem Zweiparteien- ist mittlerweile ein Sechsparteiensystem geworden: Die Ukip ist für Protestwähler und Europahasser eine Alternative geworden, die Grünen für die Globalisierungsgegner. Die Lib-Dem sind zwar wegen ihrer Koalition mit den Tories angeschlagen, aber nach wie vor eine Alternative für linksliberale Wähler. In Schottland ist die linke Scottish National Party (SNP) nicht nur zu einer Alternative für Labour geworden, sondern gar mehrheitsfähig.
Das Politsystem konnte mit dieser Entwicklung nicht mithalten. Auf der Insel wird nach der «first past the post»-Methode gewählt, ein Majorzsystem, bei dem gewonnen hat, wer zuerst am meisten Stimmen in einem bestimmten Wahlkreis erzielt hat.
Dieses System führt in der veränderten Parteienlandschaft zu absurden Resultaten: In Schottland werden der SNP voraussichtlich rund 40 von insgesamt 650 Parlamentssitzen zugesprochen, obwohl sie national bloss vier Prozent Wählerstimmen erhalten wird. Ukip und Grüne hingegen, deren Anhänger auf der ganzen Insel verteilt sind, werden zwar gegen einen Viertel der Stimmen erreichen, aber bloss je vier Parlamentssitze.
Dieses absurde System hat ungewollte Konsequenzen: Premierminister David Cameron beispielsweise wird nicht müde, seine potenziellen Wähler zu warnen: «Ihr wollt zwar mit Nigel Farage (Chef der Ukip) ins Bett, werdet aber mit Ed Miliband (Labour-Chef) aufwachen.» Weil keine Listenverbindungen möglich sind, müssen auch Umweltbewusste und Linke sehr genau überlegen, ob sie ihre Stimme nicht vergeuden, wenn sie taktisch ungeschickt wählen.
Die Mängel des britischen Wahlsystems sind so offensichtlich fern der politischen Realität, dass eine umfassende Reform notwendig geworden ist. Führende britische Publikationen wie die «Financial Times» und der «Economist» fordern daher, dass auch im VK das Majorz- durch ein Proporzsystem ersetzt wird. Das ist leichter gesagt als getan: Es käme einer politischen Revolution gleich.