Filmfestival Locarno
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Die Russen investieren in Locarno, die Königin des Schweizer Films heisst Andrea Staka, und an den Partys gibt's wie immer keine Promis

Weite, wilde See. In «Cure – The Life of Another» lauert hier das Grauen.Bild: pathé films 
Leid und Freud am Filmfestival Locarno

Die Russen investieren in Locarno, die Königin des Schweizer Films heisst Andrea Staka, und an den Partys gibt's wie immer keine Promis

14.08.2014, 06:4212.05.2015, 18:20
Simone Meier
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Die Gläser sind nicht Gläser, sondern goldene Kelche. Der DJ ist schlecht. Ein Zimmer ist schwarz mit ausgestopften Tieren und Jagdutensilien, dort gibt es einen besonders teuren Jahrgangs-Champagner und einen Mann auf einem Ledersofa, der aussieht, als würde er auf Frauen lauern. Vergebens. Denn die Frauen, die ihm gefallen könnten – italienisch gestylt, High Heels, lange Haare –, die sind im Damenzimmer. Dort gibts Rosé-Champagner, rosé Plüschsesselchen und Schaufensterpuppen. Was man sich halt so unter weiblich vorstellt. Davor zwei Zimmer mit weissen Fellen, Gold, Champagner.

Auf der Wiese: Champagnerbars. Weit und breit kein Häppchen, weit und breit kein anderes Getränk. Champagner, Champagner, Champagner. Moët&Chandon hat zu einer Party geladen, nach wenigen Minuten sind alle betrunken. Damit nichts passiert, stehen Rettungsringe mit dem Moët-Chandon-Logo bereit. «Glanz&Gloria» hat eine Starreporterin geschickt. Leider ist sie selbst der grösste Star. Melanie Griffith wird erwartet, aber die ist eine trockene Alkoholikerin und kommt nicht. Die Damen erhalten beim Abschied ein Parfüm von Bulgari geschenkt. Es riecht richtig gut. Wow, war das mondän. Auch das ist Locarno.

Der Champagnerturm von Moët&Chandon hatte leider nur schief auf dem Bild Platz.
Der Champagnerturm von Moët&Chandon hatte leider nur schief auf dem Bild Platz.Bild: simone meier

Derweil feiern in Ascona die Russen. Sie sind immer bester Laune, fahren gern nach Mendrisio ins Mega-Outlet FoxTown zum Einkaufen und sind definitiv sehr reich. Sie haben ein paar riesige Autos mit russischen Nummernschildern von Russland nach Ascona transportieren lassen, aber vor allem haben sie eine Woche lang das Kino Otello in Ascona gemietet und veranstalten dort ihr eigenes russisches Gegenfestival.

Es heisst «Schätze des russischen Film-Erbes», ist vom staatlichen russischen Filmarchiv Gosfilmofond kuratiert, es beginnt mit «Panzerkreuzer Potemkin» und geht bis heute, es sind Dutzende von Filmen, darunter einige russisch-italienische Koproduktionen wie etwa «La vita è bella», und alles italienisch untertitelt. Was seine Tradition hat. Denn russisches Kino war in Italien lange sehr wichtig, die italienischen Kommunisten waren seine grössten Fans.

Visualisierung des geplanten Palacinema in Locarno.
Visualisierung des geplanten Palacinema in Locarno.Bild: KEYSTONE

Die kinoverrückten Russen von Ascona, hatten ursprünglich dem Filmfestival Locarno angeboten, die Reihe in einer Nebensektion zu zeigen, doch das Festival hatte abgelehnt. Was vielleicht nicht so klug war. Denn die Gosfilmofond, das grösste Filmarchiv der Welt, investiert eine Million Franken in den neuen  Prachtskinobau Palacinema. Und will im Palacinema eine Zweigstelle einrichten. Aber, so sagt Festivalpräsident Marco Solari, «man braucht das Sponsoring nicht mit Inhalten zu vermischen». Kein Native Advertisement also. Das zunehmend erfolgreiche Zurich Film Festival würde ihm da heftig widersprechen. Die Kommunistische Partei der Italienischen Schweiz tut's – in diesem Fall – auch.

Locarno zeigt lieber anderes. Zum Beispiel Peter Luisis Spielfilm «Schweizer Helden». Und bei aller aufrichtigen Sympathie für Luisi – er ist im Swiss Fiction Movement ein engagierter Kämpfer für die Förderung und Freiheit des Schweizer Filmnachwuchses, er ist selbst ein Filmemacher mit einer überschäumenden Fantasie – sorry, aber so geht's nicht. Vielleicht ist «Schweizer Helden» der schlechteste Schweizer Film der letzten Jahre. Oder mindestens so schlecht wie fast jeder SRF-Sonntagabend-Film.

Von Komi Mizrajim Togbonou (hier als Asylbewerber in «Schweizer Helden») sehen wir in einem besseren Film sehr gern viel mehr.
Von Komi Mizrajim Togbonou (hier als Asylbewerber in «Schweizer Helden») sehen wir in einem besseren Film sehr gern viel mehr.Bild: frenetic
Esther Gemsch (r.) macht Integrationshilfe mit Schiller.
Esther Gemsch (r.) macht Integrationshilfe mit Schiller.Bild: frenetic

Also, eine frustrierte, einsame Sabine (Esther Gemsch), die komische Kürsli gibt, will in einem Durchgangszentrum mit Asylbewerbern Theater spielen. Sie entscheiden sich für «Willhelm Tell». Die Asylbewerber sind alle schampar sympathisch, lustig, patent und theatral hochbegabt, und dass ab und zu einer ausgeschafft wird, ist auch gar nicht so schlimm, denn schliesslich haben sie jetzt ihr Theaterprojekt, was ihre Laune und Lebensqualität rasend verbessert. Nichts kann dem total naiven Feelgood-Gefüge dieses Films irgendeinen Abbruch tun. Prädikat: Tragisch gescheitert.

Der junge amerikanische Regisseur Alex Ross Perry, der sich seinen Hipster-Bart für Locarno extra hat wachsen lassen, sagt traurig: «Polanski. Einer der grössten von uns. Seine Filme sind meine Vorbilder.» Alex Ross Perry hat für seinen Film «Listen Up Philip» Seriengöttinnen in Serie engagiert. Zuerst natürlich Elisabeth Moss. Die aufstrebende Werberin Peggy aus «Mad Men». Die gebrochene Ermittlerin aus «Top of the Lake». Die Frau, die schon so gut wie gesetzt ist als Nachfolge von Matthew McConnaughey in «True Detective». Sie ist die eine. Aber auch Krysten Ritter, einst die tödlich endende Junkie-Liebe von Jesse Pinkman in «Breaking Bad». Und schliesslich Jess Weixler, die blonde Detektivin Robyn, die in «The Good Wife» für Alicia Florrick arbeitet. Drei Frauen also, bei denen die Seriensüchtigen alle Viere von sich strecken vor Wonne. 

Hier sehen Elisabeth Moss und Jason Schwartzman noch vergleichsweise überglücklich aus.
Hier sehen Elisabeth Moss und Jason Schwartzman noch vergleichsweise überglücklich aus.Bild:  the match factory

Trailer zu «Listen Up Philip»

Die drei sind leider abhängig vom Titelhelden Philip (Jason Schwartzman), einem vollkommen egozentrischen Jungschriftsteller, der sich für den neuen Philip Roth hält und doch nur Creative-Writing-Dozent wird. Das Genre des Films ist Mumblecore, also diese hippe neue Independent-Richtung, die letztes Jahr mit «Frances Ha» ihren liebenswerten Höhepunkt erreichte. Angesagter geht kaum. Verschwafelter allerdings auch nicht. Und Alex Ross Perry ist beim besten Willen nicht der Überflieger des Mumblecore. Aber Jason Schwartzman und Elisabeth Moss zuzusehen – sie ist eine Modefotografin, die ihr Herz von Schwartzman abzügelt und  auf eine Katze setzt –, wie sie sich als vollkommene Stadtneurotiker und Paranoiker durchs Leben quälen, das lässt sich mit viel Alkohol an einem ausfransenden Sommerabend-Open-Air ganz wunderbar geniessen.

Trailer zu «Cure – The Life of Another»

Die Zürcherin Andrea Staka schliesslich liefert mit «Cure – The Life of Another» höchst wahrscheinlich ein Meisterwerk. Jedenfalls einen ungeheuer dichten, seltsam spannenden Film über ein paar Frauen in Dubrovnik, die 1993 direkt nach dem Ende des Balkankriegs zurück geblieben sind. So gut wie männerlos und einigermassen irrsinnig. Zwei 14-jährige Mädchen finden sich da, die aus der Schweiz zurückgekehrte Linda und ihre Klassenkameradin Eta. Linda bringt Eta um und verwandelt sich allmählich in die tote Freundin. Denn Etas Restfamilie, Mutter und Grossmutter, versuchen nach dem Krieg mit aller Kraft, irgendeine Art von Ersatz-Familien-Konstrukt aufrecht zu erhalten. 

Fatale Freundschaft: Linda (Sylvie Marinkovic, l.) und Eta (Lucia Radulovic) Bild: pathé films

«Cure – The Life of Another» ist einer jener rätselhaften Jungmädchenfilme mit fragil bedrohlichen Stimmungen und Akteurinnen mit einem Hang ins Schwarzromantische. Der Klassiker «Picnic at Hanging Rock» von Peter Weir und «The Virgin Suicides» von Sofia Coppola gehören dazu, es handelt sich dabei gewissermassen um das «Kranke Fräulein»-Genre, die Raster der Vernunft haben darin nicht sehr viel zu suchen.

Umso bestechender ist, wie es Andrea Staka gelingt, eine typische puberträre Seelenwundheit mit der kollektiven Verwundung, die ein Krieg zurücklässt, zu kreuzen. Die Könnerin, die 2006 mit «Das Fräulein» den Goldenen Leoparden von Locarno gewann, ist zurück. Sie ist jetzt eine Königin.

Wie sich das gehört: Andrea Staka zwischen ihren beiden Hauptdarstellerinnen, angehimmelt von ihrem Mann und Produzenten Thomas Imbach.
Wie sich das gehört: Andrea Staka zwischen ihren beiden Hauptdarstellerinnen, angehimmelt von ihrem Mann und Produzenten Thomas Imbach.Bild: EPA/KEYSTONE

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