Viele Boomer sind wegen des Vietnamkriegs politisiert worden. (Ja, auch ich.) Das grausame und sinnlose Gemetzel in Südostasien, die Musik von Jimi Hendrix und Filme wie «Easy Rider» trieben die Jungen auf die Strasse, wo sie «Ho-Ho-Ho-Chi Minh» skandierten (für die Jungen, so hiess damals der Präsident von Nordvietnam) und «Amis, go home» auf die Wände sprayten.
Der Protest gegen die USA war kein Bekenntnis zur Sowjetunion oder zum Kommunismus der Oststaaten. Im Gegenteil, Staatsmänner wie der starke Mann in der UdSSR, Leonid Breschnew, oder Walter Ulbricht, sein Gegenstück in der DDR, verkörperten so ziemlich das Gegenteil von allem, was der Boomer-Generation lieb und teuer war.
Von China kannte man derweil bestenfalls Maos rotes Büchlein, über das man herzlich lachte. Sozialismus war zwar gefragt, aber mit menschlichem Antlitz, so wie es die Tschechen 1968 versuchten, bevor sie von den Sowjets niedergewalzt wurden. Die Verehrung für Che Guevara schliesslich war mehr romantischer denn politischer Natur.
Was den Boomern jedoch völlig abging, war die Angst vor dem Verlust der Demokratie. Sicher wurden die Begriffe «Faschismus» und «Faschist» häufig, ja zu häufig gebraucht, meist jedoch in der abgeschwächten Form von «faschistoid». Mit diesem Adjektiv wurden reaktionäre Persönlichkeiten – Generäle, Richter, Lehrer, Pfarrer etc. – beglückt, oder lächerliche kalte Krieger wie der Zürcher FDP-Politiker Ernst Cincera. Dieser bespitzelte vermeintlich linke Staatsfeinde und legte Fichen über sie an. Auch das war eher komisch denn gefährlich. Wer als Linker etwas auf sich hielt und keine Fiche vorweisen konnte, war geradezu beleidigt.
Immer noch scheint eine Wiedergeburt des Faschismus irgendwie surreal zu sein. Die beiden Harvard-Politologen Steven Levitsky und Daniel Ziblatt stellen in ihrem kürzlich erschienenen Buch «Tyranny of the Minority» denn auch fest: «Die Gelehrten haben entdeckt, dass es bezüglich moderner politischer Systeme zwei Muster gibt, die fast den Charakter eines Gesetzes haben: Reiche Demokratien sterben nie, und alte Demokratien sterben nie.»
Was die Schweiz betrifft, scheint dieses Gesetz nach wie vor Gültigkeit zu haben. Unser politisches System ist derart auf Kompromiss gebürstet, dass ein Ausbrechen in Richtung autoritäres System fast unmöglich scheint. Wir sprechen von einem politischen Erdbeben, wenn eine Partei ein paar Prozentpunkte dazugewinnt. Das Ergebnis der kürzlichen Wahlen entsprach denn auch weitgehend den Erwartungen. Das sollte uns keineswegs Bauchschmerz machen, gilt doch die Maxime: Ist die Politik langweilig, geht es den Menschen gut.
Um uns herum hat sich jedoch das politische Klima in den letzten Jahren deutlich verändert. Nicht zum Guten: In Italien ist bereits eine Partei mit faschistischen Wurzeln an der Macht. In Frankreich ist ein Sieg der faschistoiden Partei von Marine Le Pen in absehbarer Zeit denkbar, wenn nicht gar wahrscheinlich geworden. Der Siegeszug der AfD in Deutschland scheint unaufhaltsam zu sein, und über Österreich reden wir besser erst gar nicht. Dass kürzlich in den Niederlanden Geert Wilders die Wahlen gewonnen hat, kann uns ebenfalls nicht fröhlich stimmen.
Wie zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges ist es so denkbar geworden, dass die Schweiz dereinst von autoritären Staaten umzingelt sein wird. Wir können zwar darüber spekulieren, was dies für Folgen für uns haben wird, wir können jedoch nicht die Augen davor verschliessen, dass sich auch bei uns autoritäre Politiker steigender Beliebtheit erfreuen. Als kürzlich der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán auf Einladung von Roger Köppel in Zürich weilte, wurde er unter anderen von Ex-Bundesrat Ueli Maurer und anderen SVP-Grössen herzlich begrüsst.
Viktor Orbán ist der Star der postfaschistischen Szene. Er wird bewundert von allem, was in der rechtsextremen Ecke kreucht und fleucht, denn es ist ihm gelungen, Demokratie und Rechtsstaat weitgehend auszuhebeln. Wie hat er das geschafft?
Dank eines Skandals innerhalb der sozialistischen Partei Ungarns kam Orbán 2010 an die Macht. Das in Ungarn gültige Majorz-System verstärkte seinen Wahlsieg zusätzlich. Orbán machte sich sogleich daran, seine Macht abzusichern. Er liess die Verfassung in einer Weise abändern, die es ihm ermöglichte, eigenmächtig Richter einzusetzen. Gleichzeitig stockte er das Verfassungsgericht um vier Stühle auf, die er mit ihm ergebenen Richtern besetzte. Den unabhängigen Präsidenten dieses Gerichts feuerte er.
Nach den Gerichten knöpfte sich Orbán die Medien vor. Die unabhängigen TV-Stationen wurden rasch zu Staatsfernsehen umfunktioniert. Mehr als tausend Personen, darunter bekannte Journalisten, wurden entlassen und durch loyale Speichellecker ersetzt. Bei den privaten Medien sorgte Orbán dafür, dass sie in die Hände von guten Freunden gelangten. Heute sind rund 90 Prozent aller Medien de facto Propaganda-Organe der Fidesz-Partei.
Schliesslich liess Orbán das Wahlsystem in einer Art und Weise abändern, die es fast unmöglich macht, ihn wieder von der Macht zu verdrängen. Oppositionelle Politiker haben es sehr schwer, sich in den gleichgeschalteten Medien Gehör zu verschaffen, und sie brauchen dank einer ungarischen Version von Gerrymandering, der willkürlichen Einteilung von Wahlkreisen, deutlich mehr Stimmen, um einen Kandidaten der Fidesz zu schlagen.
All dies hat sich ausgezahlt. In Ungarn werden zwar immer noch Wahlen durchgeführt – die letzte im Jahr 2022 –, doch sie sind zur Farce geworden. Es geht eigentlich einzig noch darum, wie hoch die Fidesz-Mehrheit ausfallen wird. «Viktor Orbán ist somit etwas Ausserordentliches gelungen», stellen Levitsky/Ziblatt fest. «Er hat nicht nur eine ausgewachsene Demokratie zerstört, er hat dies auch mit fast legalen Mitteln getan.»
Stolz bezeichnet Viktor Orbán heute das ungarische System als «illiberale Demokratie». Das tönt nicht nur wie die «gelenkte Demokratie», von der Wladimir Putin spricht, es ist es auch. Der ungarische Ministerpräsident ist ein grosser Fan des russischen Präsidenten und unternimmt alles, diesen in seinem Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen.
Orbán hat die Blaupause für einen pseudo-legalen Umbau einer Demokratie in ein autoritäres Regime geliefert, und er wird dafür nicht nur gefeiert, sondern auch kopiert. Tucker Carlson, die amerikanische Antwort auf Joseph Goebbels, ist zu ihm nach Budapest gepilgert, um ihn zu interviewen. Vor allem jedoch lobt Donald Trump ihn in den höchsten Tönen, selbst wenn er ihn gelegentlich als Präsident der Türkei bezeichnet.
Und damit sind wir bei des Pudels Kern angelangt. Die Zukunft von Demokratie und Rechtsstaat hängt in erster Linie davon ab, was 2024 in den Vereinigten Staaten von Amerika geschehen wird; und dort ist die Möglichkeit, dass sich eine neue Spielart von Faschismus ausbildet, kein Hirngespinst der Progressiven mehr. Trump bedient sich inzwischen offen einer Sprache, die sich an Hitler anlehnt. Er bezeichnet seine Gegner als «Ungeziefer» und behauptet, Immigranten würden das «Blut der Nation vergiften».
Zudem hat er ganz konkrete Pläne, wie er nach einem Wahlsieg die USA nach dem Vorbild von Viktor Orbán in ein autoritäres System verwandeln würde. Nicht von ungefähr spricht er davon, dass er «Diktator für einen Tag» sein würde. Hier die wichtigsten Punkte von Trumps Absichten:
Sollte es Trump gelingen, die älteste Demokratie in ein autoritäres System zu verwandeln, wäre das nicht nur für die Amerikaner eine Katastrophe. Auch die geopolitischen Erschütterungen lassen sich erahnen:
Zerbricht die NATO, ändern sich die Machtverhältnisse in Europa grundlegend. Putin will bekanntlich die UdSSR wieder aufleben lassen – allerdings ohne Kommunismus – und die Grossmacht Russland wiederherstellen. Das bedeutet, dass er sich keineswegs mit einem Sieg in der Ukraine begnügen würde. Vor seinem Einmarsch hat er offen erklärt, dass er die NATO wieder bis an die Grenzen zu Deutschland zurückdrängen will. Das bedeutet, dass Moldawien und Georgien, aber auch Polen, Rumänien, Tschechien, die Slowakei und die baltischen Staaten wie zu Zeiten des Eisernen Vorhangs wieder zu Vasallen Russlands würden.
In Bedrängnis würde auch Deutschland geraten. Anders als das Vereinigte Königreich und Frankreich verfügt es über keine eigenen Atomwaffen und ist auf den Schutz der USA angewiesen. Fällt dieser Schutz weg, dann brechen auch in Berlin sehr unruhige Zeiten an. Über kurz oder lang müssten wir uns auch in der Schweiz warm anziehen.
Im Ausblick auf ein neues Jahr wird gerne und oft die Phrase von «historischen Zeiten» bemüht. Diesmal ist dies keine Leerformel. Die liberale Weltordnung des Westens ist bedroht, nur Traumtänzer können das noch ignorieren. Eine neue Form von Faschismus ist nicht nur denkbar, sondern möglich geworden. Wer dies mit dem Einwand der «Faschismus-Keule» zu verharmlosen sucht, der will eine «clear and present danger», eine eindeutige Gefahr, nicht zur Kenntnis nehmen. Und übrigens: Faschismus ist nicht gleichbedeutend mit Holocaust und Auschwitz, er ist auch ohne Antisemitismus möglich.
Der Anti-Amerikanismus der Boomer-Generation war berechtigt. Vietnam war nicht das einzige Verbrechen der USA. Nach dem Motto «He is a son of a bitch, but he is our son of a bitch» (Er ist ein Hurensohn, aber er ist unser Hurensohn) haben die Amerikaner Diktatoren von Indonesien über Bangladesch bis Afrika in sogenannten Stellvertreterkriegen unterstützt, und sie haben dabei beide Augen vor deren Gräueltaten verschlossen. Höhepunkt war ihre Rolle im blutigen Putsch gegen Salvador Allende, den rechtmässig gewählten Präsidenten Chiles, im Jahr 1973.
Heute jedoch stehen wir vor einer ganz anderen Lage. Heute sind es die Neofaschisten, die zusammen mit ein paar unbelehrbaren Alt-Stalinisten fordern, dass sich Europa von den USA emanzipiert. Es sind die Roger Köppels, die Matteo Salvinis, die Björn Höckes oder die Herbert Kickls und alle Neo-Faschisten, welche diese Forderung lauthals stellen. Allein das sollte uns misstrauisch machen.
Gerade heute braucht Europa die Amerikaner wie selten zuvor, vorausgesetzt, es gelingt, Donald Trump vom Weissen Haus fernzuhalten. Deshalb sollten wir hoffen, dass der «orange Jesus» Schiffbruch erleidet – und wir danach ein Stossgebet zum Himmel richten können, mit der Botschaft: «Amis, please don’t go home!» Wir müssen es ja nicht mehr auf die Hauswände sprayen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass das nächste Wahlresultat tatsächlich akzeptiert werden wird - und ich verstehe sogar beide Seiten. Die Demokratie droht aktuell zu kollabieren.
Die amerikanischen Geheimdienste sollten sich ihrer Pflicht bewusst sein, Schaden unter allen Umständen von der ältesten Demokratie der Welt fernzuhalten.