Viele in Amerika sind an diesem Mittwoch wie aus einem bösen Traum erwacht. Nur um festzustellen, dass der wahre Albtraum vielleicht gerade erst begonnen hat. Was sie bis zuletzt nicht wahrhaben wollten, ist eingetreten: Der Nation stehen vier Jahre unter Präsident Donald J. Trump bevor. Das Wetter in seiner Heimatstadt New York, die sich politisch auf einem ganz anderen Planeten befindet, passte zur Stimmungslage: Es war trüb und nass.
Im Hipsterviertel Williamsburg, in dem ich meine temporäre Bleibe habe, waren die Menschen an «11/9», wie der Tag bereits genannt wird, noch immer fassungslos. Wie konnte das passieren? Wie konnten die Amerikaner einen vulgären Schreihals wählen, dessen Auftritte vor Lügen nur so strotzten? Der wegen Lappalien die Selbstkontrolle verliert und auf das Amt überhaupt nicht vorbereitet ist? Der ein problematisches Verhältnis zu Frauen hat? Und der nun die stärkste Armee und das grösste Atomarsenal der Welt kommandieren wird?
Donald Trumps Wahlsieg ist eine Blamage für die Medien und Demoskopen, die überwiegend mit einem Erfolg von Hillary Clinton gerechnet haben. Er entzauberte vermeintliche Gurus wie den Statistiker Nate Silver, der 2008 und 2012 den Wahlausgang verblüffend genau prognostiziert und ein vermeintlich narrensicheres Modell entwickelt hatte. Nun lag auch er total daneben.
Vordergründig ist Clinton schuld. Sie war eine schwache Gegenkandidatin. Mit zu vielen Skandalen ist ihr Name verknüpft, zu eklatant war ihre Unfähigkeit, die Menschen für sich zu begeistern. Eine Analyse der «New York Times» zeigt, dass sie von Schwarzen und Latinos deutlich weniger Unterstützung erhielt als Barack Obama, den sie als einen der ihren betrachten. Der Schlussspurt der Latinos, den US-Medien vermeldeten, war nur ein Strohfeuer.
Und dennoch: Für Clintons Scheitern sind nicht das FBI oder ihre E-Mails verantwortlich. Den Schlüssel zu Donald Trumps Erfolg konnte man bereits am frühen Dienstagabend den Exit Polls entnehmen. Demnach denken mehr als 60 Prozent der Amerikaner, ihr Land bewege sich in die falsche Richtung. Dieser Befund ist nicht neu, Umfragen belegen ihn schon seit Jahren. Deshalb hat Trumps schockierender Sieg seine Logik: Irgendwann musste es zum grossen Knall kommen.
Viele vorab weisse Amerikaner empfinden eine tiefe Frustration. Sie fühlen sich als Verlierer der Globalisierung. Tatsächlich sind Millionen gut bezahlter Mittelstands-Jobs in Billiglohnländer abgewandert. Eine Grundkonstante der Einwanderungsnation USA, wonach es jeder Generation besser gehen soll als jener der Eltern, gilt nicht mehr. Das erzeugt Ängste auch bei jenen, die nicht betroffen sind. Zahlreiche Trump-Wähler verfügen über ein anständiges Einkommen. Doch Phantomschmerzen können schlimmer sein als reale Pein. Und Verlustängste tun besonders weh.
Man füge eine Prise Rassismus hinzu – die Angst der Weissen vor dem Ende ihrer historischen Vormachtstellung –, und man versteht, warum Donald Trump Präsident wurde, obwohl ihn die Amerikaner laut den Umfragen noch weniger mögen und ihm noch weniger vertrauen als Hillary Clinton. Die Demokraten machten sich lustig über seinen Slogan «Make America great again», besonders über das «wieder». Doch so empfinden seine Anhänger.
Es ist das eklatante Versagen der Eliten in Politik und Wirtschaft, dass sie jahrelang ignorierten, was sich in ihrem Land zusammenbraute. Das beginnt mit den Republikanern. Die parteiinternen Rivalen nahmen Donald Trump so lange nicht ernst, bis sie von ihm weggefegt wurden. Versagt haben auch die Demokraten, die längst die Partei von Wall Street, Hollywood und Silicon Valley sind. Sie glaubten, die «Obama-Koalition» aus Jungen, gut Ausgebildeten und Minderheiten werde ihre Vormacht auf Jahre hinaus zementieren. Nun stehen sie vor einem Trümmerhaufen.
Das Problem beschränkt sich nicht auf die USA. Wir haben in der Schweiz unseren eigenen 11/9-Moment erlebt, am 9. Februar 2014. Die Masseneinwanderungs-Initiative konnte nur angenommen werden, weil auch bei uns die politischen und wirtschaftlichen Eliten die Stimmung im Volk völlig unterschätzt hatten. Sie ignorierten oder verharmlosten die Wut vieler Menschen über die Folgen der starken Zuwanderung: hohe Wohnkosten, volle Züge, Angst vor Arbeitslosigkeit im Alter.
Nun muss sich das Parlament mit den Folgen der Abstimmung und ihrer Umsetzung abmühen. Ähnlich lief es dieses Jahr in Grossbritannien. Auch dort wollten viele Elite-Vertreter nicht wahrhaben, dass das Volk für den Austritt aus der Europäischen Union stimmen könnte. Nun muss die Regierung sich mit den Folgen des Brexit-Entscheids herumschlagen. Donald Trump, der Sohn einer schottischen Mutter, hat im Wahlkampf wiederholt Parallelen zum Brexit gezogen. Zu Recht.
Die Arroganz der Globalisierungs-Profiteure rächt sich bitter. Eine am Dienstag veröffentlichte UBS-Studie belegt, dass die Haushaltseinkommen der Mittelstands-Familien in vielen Industrieländern seit Jahrzehnten nicht mehr gestiegen sind. Dies sei die Hauptursache für den Aufstieg der Populisten. In der Schweiz sei die Entwicklung weniger schlimm, meinten die UBS-Experten. Der MEI-Entscheid zeigt jedoch, dass auch wir für populistische Ideen anfällig sind.
In den USA hingegen geht es mit dem Mittelstand bereits seit den 70er Jahren bergab. Seit damals stagnieren die Einkommen. Die Finanzkrise von 2008 hat den Trend massiv verstärkt. Die Eliten kümmerte dies kaum. Barack Obamas vielleicht grösstes Versagen als Präsident war sein zögerliches Verhalten gegenüber den Wall-Street-Banken, die viele Amerikaner für ihre Misere verantwortlich machen. Die Regierung aber beliess es dabei, ihr Fehlverhalten im Subprime-Skandal mit Bussen zu bestrafen (oder eher zu belohnen). Kein Top-Banker musste ins Gefängnis.
Am Ende dieser fatalen Entwicklung steht der Einzug von Donald Trump ins Weisse Haus, obwohl auch er ein Teil des Establishments ist. Er wuchs mit einem goldenen Löffel im Mund auf und erhielt vom Papa ein Startkapital von einer Million Dollar. Die Lebensumstände seiner Fans sind ihm fremd, doch er versteht es, ihnen nach dem Mund zu reden, wie Brexit-Wortführer Boris Johnson, ein Musterbeispiel eines britischen Upper-Class-Zöglings.
Wirklich verheerend an ihrem Erfolg aber ist, dass die vermeintlichen Heilsbringer sich bei genauer Betrachtung als Lügner und Scharlatane entpuppen. Trumps gesammelte Unwahrheiten kann man kaum aufzählen. Und ob er die immensen Erwartungen seiner Fans als Präsident erfüllen kann, muss sich zeigen. Gut möglich, dass er sie im Gegenteil enttäuschen wird.
Die Brexit-Befürworter zogen im Frühjahr mit einem Bus durch die Lande, auf dem sie ankündigten, die 350 Millionen Pfund, die Grossbritannien angeblich pro Woche an die EU überweisen muss, dem nationalen Gesundheitsdienst (NHS) zukommen zu lassen. Schon am Tag nach der Abstimmung erklärte UKIP-Chef Nigel Farage, so habe man das dann doch nicht gemeint. Und einen konkreten Plan, wie der Brexit vollzogen werden soll, konnten sie nie vorlegen.
In der Schweiz betonte die SVP vor der Abstimmung über ihre Zuwanderungs-Initiative, das Abkommen über die Personenfreizügigkeit müsse bei einem Ja nicht gekündigt, sondern nachverhandelt werden. Ein Versprechen, das mit der Realität wenig gemein hat, wie man weiss. Immerhin hat die Partei die Maske fallen lassen, sie ist bereit, die Kündigung der gesamten bilateralen Verträge in Kauf zu nehmen. Strategiechef Christoph Blocher hat sie ohnehin nie wirklich akzeptiert.
Allerdings sollte man ja nicht den Fehler machen und glauben, mit einer Entzauberung dieser Polit-Quacksalber werde sich das Problem von selbst lösen. Eher muss man mit dem Gegenteil rechnen. Bis Dienstag konnte man davon ausgehen, dass Front-National-Chefin Marine Le Pen bei der französischen Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2017 die zweite Runde erreichen, dort aber sicher unterliegen wird. Jetzt muss man der Realität ins Auge blicken: Le Pen kann es schaffen, so wie der Islamhasser Geert Wilders niederländischer Regierungschef werden kann.
Auf dem Spiel steht dabei nichts weniger als die liberale Demokratie. Wenn einer wie Donald Trump US-Präsident werden kann, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Es ist eine deprimierende Wahrheit, die man laut und deutlich aussprechen muss: Die liberale Demokratie ist längst nicht so gefestigt, wie wir uns eingebildet haben. Sie ist im Gegenteil ein fragiles Gebilde.
Gefordert wären besonders die oft (denk-) faulen und selfie-verliebten Millennials. Es geht um ihre Zukunft. Sie müssen den Kampf aufnehmen gegen die falschen Propheten des Populismus. Und gegen die ignoranten und arroganten Eliten, insbesondere die nicht wenigen Vertreter der Wirtschaft, die wie Donald Trump autoritäre Regime für ihre vermeintliche Effizienz bewundern.
Und es braucht Massnahmen gegen den Frust der Globalisierungsverlierer. Die Finanzmärkte müssten mit wirksamen Massnahmen gezähmt werden. Unternehmen dürfen ihre Mitarbeiter nicht länger als Kostenfaktor betrachten und den Managern gleichzeitig überrissene «Löhne» auszahlen – die Annahme der Abzocker-Initiative ist auch ein Aspekt des «Trump-Faktors». Die EU wiederum muss ihren Dogmatismus bei der Personenfreizügigkeit überdenken.
Die liberalen Demokratien müssen allen einen Weg in eine positive Zukunft aufzeigen, auch jenen, die sich als Verlierer fühlen. Sonst wird diese Zukunft das Gesicht von Wladimir Putin, Viktor Orban oder Recep Tayyip Erdogan tragen. Oder jenes von Donald Trump.
Auch eine Marine Le Pen wird im Moment nicht wirklich ernst genommen.
Wenn einer wie Trump US-Präsident wird, kann auch eine Marine Le Pen Staatspräsidentin werden.
2017 sind Wahlen in Frankreich. Die Frexit-Abstimmung würde bei einem Sieg von Le Pen vermutlich auf dem Fuss folgen.
Die Linke und politische Mitte (weltweit) hat zunehmend Mühe die Menschen mit ihren Nöten und Sorgen zu erreichen.