In Nordirland spielen sich Szenen ab, die an das dunkelste Kapitel seiner Geschichte erinnern. Seit dem Osterwochenende kommt es zu gewaltsamen Protesten probritischer Loyalisten. In der Nacht auf Donnerstag wurde in der Hauptstadt Belfast ein Doppeldeckerbus angezündet. Tote gab es bislang keine, aber zahlreiche Verletzte.
Selbst Kinder sollen sich an den Krawallen beteiligt haben. Beobachter fühlen sich an die Zeit der «Troubles» erinnert, wie die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Nordirland von 1969 bis 1998 beschönigend genannt werden. Mit rund 3600 Todesopfern handelte es sich um den blutigsten Konflikt im westlichen Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.
Vordergründig sind die Ausschreitungen eine Reaktion auf den Entscheid der Belfaster Staatsanwaltschaft, auf eine Anklage gegen 24 führende Mitglieder der Partei Sinn Fein zu verzichten. Sie ist der politische Ableger der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die für die meisten Terroranschläge während der «Troubles» verantwortlich war.
Heute bildet Sinn Fein eine wackelige Koalitionsregierung mit der probritischen Unionstenpartei DUP. Auslöser des Strafverfahrens war die Beerdigung des ehemaligen «Geheimdienstchefs» der IRA im Juni 2020. Fast 3000 Personen nahmen teil, ein krasser Verstoss gegen die Corona-Regeln, die Versammlungen auf 30 Personen beschränkten.
Das Ziel von IRA und Sinn Fein war und ist die Wiedervereinigung mit der Republik Irland. Als diese 1921 – also vor genau 100 Jahren – die Unabhängigkeit von Grossbritannien erkämpft hatte, blieb das mehrheitlich protestantische Nordirland Teil des Königreichs. Die katholische, überwiegend republikanische Bevölkerungsminderheit wurde benachteiligt.
Die Spannungen führten 1969 zur Explosion mit den «Troubles». Sie endeten offiziell 1998 mit dem sogenannten Karfreitagsabkommen. Seither herrscht in Nordirland ein fragiler Frieden, doch die Gesellschaft bleibt tief gespalten. Die Stadtviertel von Republikanern und Loyalisten in Belfast etwa sind bis heute durch Betonmauern voneinander getrennt.
Viele Probriten fühlen sich als Verlierer des Karfreitagsabkommens. Zusätzlich angefacht wird diese Gefühlslage durch die Demografie. Die Katholiken dürften in Nordirland in absehbarer Zeit in der Mehrheit sein. Umfragen zeigen eine wachsende Zustimmung zur Wiedervereinigung. Auch deshalb sorgte der Entscheid der Staatsanwaltschaft für Unmut.
Die eigentliche Ursache der Gewalt aber ist der Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union. Bei der Abstimmung im Juni 2016 dachte kaum jemand an die Folgen für den nordirischen Friedensprozess. Warnende Stimmen wurden überhört. Denn seit 1998 ist die sichtbare Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Norden verschwunden.
Die offene Grenze auf der Grünen Insel gilt als wesentlicher Faktor dafür, dass die militanten Republikaner der Gewalt abschwörten. Möglich war sie, weil Irland und Grossbritannien dem EU-Binnenmarkt angehörten. Mit dem Brexit hätten eigentlich Zollkontrollen eingeführt werden müssen, damit die Briten keine «Hintertür» zum europäischen Markt erhielten.
Für Dublin und die nordirischen Republikaner war dies ein No-Go. Die konservative Regierung in London wollte die Kontrollfrage mit irgendwelchen «Technologien» lösen. 2019 aber musste sie das Nordirland-Protokoll unterschreiben. Der Norden bleibt damit faktisch im EU-Markt, dafür gibt es nun eine Zollgrenze in der Irischen See.
Seit dem definitiven EU-Austritt am 1. Januar ist sie in Kraft. Die Folgen waren unter anderem leere Supermarktregale, weil britische Firmen ihre Waren wegen den Zollformalitäten nicht mehr nach Nordirland liefern wollten. Dies erregte den Zorn vieler Loyalisten, die sich durch die «Abtrennung» vom Rest des Landes verraten fühlen.
I am deeply concerned by the scenes of violence in Northern Ireland, especially attacks on PSNI who are protecting the public and businesses, attacks on a bus driver and the assault of a journalist. The way to resolve differences is through dialogue, not violence or criminality.
— Boris Johnson (@BorisJohnson) April 7, 2021
Der britische Premierminister Boris Johnson verurteilte die jüngste Gewalt auf Twitter. Für den früheren Labour-Nordirlandminister Peter Hain ist er der Hauptschuldige an den Ausschreitungen, weil er den harten Brexit «dogmatisch» vorangetrieben habe. Er habe den Nordiren, die mehrheitlich in der EU bleiben wollten, nie die Wahrheit gesagt.
Nun versuchen Johnson und seine Regierung, den Schaden zu begrenzen. Sie verlängerten einseitig die Ende März ausgelaufene Übergangsfrist für den Import gewisser Produkte bis Oktober. Die EU-Kommission hat deshalb im März ein Verfahren gegen Grossbritannien wegen Verletzung des Nordirland-Protokolls und damit des Austrittsvertrags eingeleitet.
Boris Johnson steckt in der Klemme, denn er muss auch auf die USA Rücksicht nehmen, mit denen er ein Handelsabkommen anstrebt. Ex-Präsident Donald Trump war ein feuriger Brexit-Anhänger. Sein Nachfolger Joe Biden jedoch ist ein irischer Katholik. Im ersten Telefonat mit Johnson betonte er die Bedeutung des Karfreitagsabkommens.
Mit seinem einseitigen Manöver hat der Premier höchstens ein wenig Zeit gewonnen. Eine Lösung für das Nordirland-Dilemma ist aber schwierig. Peter Hain setzt auf neue Gespräche mit Dublin und Brüssel, doch es ist angesichts der konfliktreichen Vorgeschichte nur schwer vorstellbar, dass sich eine für alle Seiten befriedigende Regelung finden lässt.
Mit Grenzkontrollen zur Republik Irland wäre der Brexit vollzogen, doch es bestünde die Gefahr neuer «Troubles». Die IRA hat ihre Waffen nach einem jahrelangen Tauziehen abgegeben, doch es gibt radikale Splittergruppen, denen alles zuzutrauen ist – sogar eine Rückkehr zu den verheerenden Bombenanschlägen, die Nordirland damals traumatisierten.
Umgekehrt könnten die derzeitigen Ausschreitungen nur der Anfang sein. Denn auch auf Seiten der Loyalisten gibt es terroristische Gruppen wie die Ulster Defence Association (UDA). Diese Paramilitärs drohen ziemlich unverhohlen mit Anschlägen, falls die Zollkontrollen in den Häfen von Nordirland und England nicht verschwinden sollten.
Das neue Zollregime nach dem Brexit sorgt auch in England, Schottland und Wales für Ärger, vor allem bei jenen Betrieben, die hauptsächlich in die EU exportieren und dies nun nicht mehr reibungslos tun können. Als grösster Kollateralschaden aber entpuppt sich Nordirland. Dort steht nicht die Wirtschaft auf dem Spiel, sondern der Frieden.
Aber wenn einer stetig sein Mantra «Get Brexit Done» herunter betet und ebendies zur absoluten Priorität erklärt, dann geht eben auch Geschirr zu Bruch. Boris Johnsons Regierung wurde wiederholt angemahnt, das «Good Friday Agreement» zu respektieren. Leider vergeblich.