Kein Krümel Erde darf rein. Das ist das Ergebnis des sogenannten Nordirland -Protokolls, zu dem sich die EU und Grossbritannien nach monatelangen Verhandlungen durchgerungen hatten. Um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu verhindern, ist die britische Provinz nach wie vor Teil des Vereinigten Königreichs und gleichzeitig Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion. Eine paradoxe Notlösung, die dazu führt, dass nicht ein Krümel Erde vom britischen Festland auf die irische Insel gelangen darf, die Krisentreffen zwischen EU und den Briten nötig macht und Frust und Wut in Nordirland anschwellen lässt.
Keine Kontrollen für den Warenverkehr zwischen Grossbritannien und Nordirland – das hatte Boris Johnson immer wieder versprochen. Und dieses Versprechen musste er brechen. Bürger und Unternehmen klagen nun über bürokratische Hürden. Die probritischen Unionisten in Nordirland laufen Sturm.
Der Brexit-Deal hat zwar eine harte Grenze auf der irischen Insel verhindert, dafür aber eine De-facto-Grenze in der Irischen See errichtet. Und an der wird alles, wirklich alles, penibel kontrolliert, was aus einem Teil des Vereinigten Königreichs in einen anderen Teil ausgeführt wird. Durchgeführt werden diese Kontrollen überwiegend an den nordirischen Häfen.
Die Situation führte Anfang des Jahres nicht nur zu leeren Regalen in nordirischen Supermärkten, weil die Warenlieferungen aus Grossbritannien nicht oder verspätet durchgekommen waren, sie ist noch viel absurder. Sie führt zur Knappheit von Topfpflanzen, die in englischer Erde stecken, und nicht mehr auf nordirischen Boden gelangen dürfen.
Ein Bauunternehmer bekam Probleme, weil Baggerschaufeln, die mit dem Schiff kamen, noch mit Sand aus Grossbritannien verschmutzt waren – und Sand sowie Erde aus Grossbritannien darf nicht einfach so in den EU-Binnenmarkt «eingeführt» werden, denn beides gilt nach den strengen EU-Gesundheitsregeln als Risiko.
Käsehersteller auf dem britischen Festland schicken ihre Produkte nicht mehr nach Nordirland. Es dauert einfach zu lange, bis die Ware ankommt. Früher waren es maximal drei Tage, nun können Wochen vergehen, bis die Zustellung erfolgt – dann ist der Käse verdorben.
Der Internethändler Amazon liefert derzeit kein Bier, keinen Wein und keinen Schnaps mehr nach Nordirland. Die Begründung: Die Einfuhrbestimmungen sind zu aufwendig und die anfallenden Zölle zu hoch. Weitere Waren könnten in Zukunft ebenfalls vom Lieferstopp betroffen sein, kündigte Amazon im Januar an.
Customs staff withdrawn from Belfast and Larne ports over safety concerns. This follows unionist warnings of rising tensions about Irish Sea border. While threatening graffiti has also appeared in Larne https://t.co/1eVCk2xxYD pic.twitter.com/xm091j10Xf— Barry Whyte (@BarryWhyte85) February 2, 2021
All das führt zu Frust in Nordirland. Und der richtet sich nicht nur gegen die EU, sondern auch gegen Premierminister Johnson, von dem sich viele Nordiren verraten fühlen. Es ist ein Frust, der für die in Nordirland immer präsenten politischen Extreme ein Geschenk ist – und er wird zunehmend auch auf den Strassen spürbar.
Lebensmittelkontrollen an den Häfen in Nordirland wurden Anfang Februar vorübergehend ausgesetzt. Grund war eine «Zunahme unheimlichen und bedrohlichen Verhaltens in den vergangenen Wochen», teilte die Gebietsverwaltung mit. Ende Januar tauchte am Hafen von Larne, in dem Waren vom britischen Festland kontrolliert werden, ein Graffito auf, auf dem stand: «All border post staff are targets» (Alle Grenzkontrolleure sind Ziele). Es wurde schnell übermalt, doch kurz danach wurden Fadenkreuze auf der übertünchten Stelle platziert. Zuvor waren ähnliche Graffitis nahe dem Hafen von Belfast aufgetaucht.
Sofort werden Erinnerungen wach an die dunkelsten Stunden in der nordirischen Geschichte. Fast 30 Jahre lang befand sich die Insel im Ausnahmezustand. Der Konflikt zwischen den überwiegend katholischen Anhängern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands und den mehrheitlich protestantischen Anhängern der Union mit Grossbritannien kostete rund 3500 Menschen das Leben. Er wurde erst 1998 durch das Karfreitagsabkommen befriedet. Der Waffenstillstand ist fragil und wirklich zusammengefunden haben die einstigen Feinde nie.
Bei den Brexit-Verhandlungen stand die Befürchtung im Vordergrund, eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland könnte den Konflikt erneut ausbrechen lassen. So kam es zum derzeitigen absurden Grenzkonstrukt – das nicht funktioniert und nun seinerseits Konfliktauslöser werden könnte.
Die EU und Grossbritannien haben die Gefahr erkannt, ein Krisentreffen abgehalten und einen Ausschuss einberufen, der die gemeinsame Arbeit «im Geiste von Zusammenarbeit, Verantwortung und Pragmatismus» steuern soll. Ob das für die Betroffenen ausreicht, ist fragwürdig. Reden müssen beide Seiten aber in jedem Fall, denn es könnte schnell alles noch dramatischer werden.
Bis März gilt noch eine Übergangsphase mit vereinfachten Kontrollen für den Warenverkehr zwischen Nordirland und Grossbritannien. Johnsons Staatsminister Michael Gove hat schon eine Ausdehnung gefordert und das bis gleich 2023 ! Können sich beide Seiten nicht auf verlängerte Übergangsregeln einigen, droht mit noch schärferen und aufwendigeren Kontrollen ein noch grösseres Chaos an den nordirischen Häfen.
Die Brexit-Expertin und nordirische Konfliktforscherin Katy Hayward warnt daher: «Nordirland ist ein zerbrechlicher Ort, sehr vorsichtig ausbalanciert.» In Nordirland sei die Angst gross, nicht gehört zu werden und stark von Entscheidungen in London und Brüssel abhängig zu sein. Sie befürchtet daher: «Es gibt ein echtes Risiko, dass das Nordirland-Protokoll zusammenbricht.» Die Folgen wären unabsehbar. Zum einen wäre der gesamte Handelsdeal mit der EU in Gefahr, zum anderen könnte das Karfreitagsabkommen kollabieren.
Die einzige denkbare Alternative zum derzeitigen Konstrukt ist momentan doch eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland. Und die – da sind sich nahezu alle Experten einig – würde den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten befeuern. Denn im Karfreitagsabkommen hatte London sich verpflichtet, diese Grenze zur Republik Irland offen und durchlässig zu halten.
Man sollte sich bei den Brexiters bedanken, dass das alles überhaupt so gekommen ist, denn die wollten das so.
Warum auf die EU? Die Tories haben das Good Friday Agreement gegen die Wand gefahren, just to get Brexit done. Die EU und Irland haben früh genug klar kommuniziert, wo aus ihrer Sicht rote Linien liegen. Boris Johnsen und seine Hardliner haben sich nicht weiter dafür interessiert.
Fazit: Komplett verquere Berichterstattung. Wenn schon sollten die Nordiren auf London und die Tories wütend sein.