Amerikanische Politik pervers: «Seien wir ehrlich: Sollte dieses Gesetz zur Abstimmung gelangen, dann wird es auch angenommen», erklärt Andy Biggs, ein republikanischer Hardliner und Gegner des von ihm erwähnten Gesetzes, in dem es um die Hilfe an die Ukraine geht. «Ja, warum zum Teufel wird dann nicht darüber abgestimmt?», fragt sich der mit amerikanischer Politik nicht vertraute Laie.
Die kurze Antwort lautet einmal mehr: Donald Trump.
Die etwas längere lautet wie folgt: Im amerikanischen Abgeordnetenhaus kann der Speaker, der Führer der Mehrheitspartei, darüber entscheiden, welche Gesetze zur Abstimmung kommen und welche nicht (über Ausnahmen später mehr).
Aktuell ist Mike Johnson dieser Speaker. Bis vor wenigen Monaten war er noch ein unbekannter Hinterbänkler. Weil er fromm, nett und Trump-hörig ist, machten ihn die Republikaner als Kompromisskandidaten zum Speaker, dem drittmächtigsten politischen Amt in den USA.
Dank der Hardliner der Republikaner im Abgeordnetenhaus ist Johnsons Macht allerdings begrenzt. Matt Gaetz & Co. haben bereits bei Kevin McCarthy, seinem unglücklichen Vorgänger, durchgesetzt, dass mit einer einzigen Stimme eine Vertrauensabstimmung gegen ihn erzwungen werden kann. McCarthy wurde dann auch prompt ein Opfer dieser Regel, über Johnson schwebt sie wie ein Damoklesschwert.
Die Hardliner drohen Johnson ganz offen, sie würden ihm das gleiche Schicksal bescheren wie McCarthy, sollte er es wagen, das Hilfspaket zur Abstimmung zu bringen. Grund: Der Máximo Líder aus Mar-a-Lago will es so, und seine unterwürfigen Helfershelfer in Washington unternehmen alles, dass dieser Wunsch auch in Erfüllung geht.
So kommt es, dass Trump mit seinen Adlaten im Begriff ist, ein Gesetz abzuwürgen, das die Mehrheit des Kongresses und die Mehrheit der Bevölkerung will.
Nur so nebenbei: Was muss sich wohl ein ukrainischer Soldat im Schützengraben denken, wenn er sich vor Augen führt, dass eine Marjorie Taylor Greene oder ein Matt Gaetz verhindern können, dass er seine dringend benötigte Munition erhält?
Der ukrainische Soldat kann allerdings Mut schöpfen. Soeben hat der Senat mit 70 gegen 29 Stimmen das besagte Hilfspaket genehmigt. Mitch McConnell, der republikanische Minderheitsführer, hat sich daraufhin wie folgt an seine Kollegen im Abgeordnetenhaus gewandt: «Wir haben die verschiedensten Gerüchte gehört, ob das Abgeordnetenhaus dieses Gesetz unterstützt oder nicht. Die einfachste Art, diese Frage zu klären, besteht darin, darüber abzustimmen.»
Dass es zu einer solchen Abstimmung kommen wird, ist seit gestern wahrscheinlicher geworden. Die Demokraten haben nämlich eine wichtige Nachwahl im Bundesstaat New York gewonnen. Es ging dabei um den Sitz von George Santos, dem legendären Lügenbold, der zum Rücktritt gezwungen wurde.
Nach einem beispiellosen Wahlkampf hat der Demokrat Tom Suozzi seine republikanische Rivalin Mazi Pilip bezwungen, und zwar deutlich. Damit haben die Demokraten erneut bewiesen, dass sie zwar die Umfragen verlieren, dafür die Wahlen gewinnen, ein sehr gutes Omen für die Wahlen im November.
Vor allem aber hat der Sieg von Suozzi die eh schon hauchdünne Mehrheit der Republikaner noch dünner gemacht. Würde die Abstimmung über das lächerliche Impeachment-Verfahren gegen Alejandro Mayorkas, den Minister für innere Sicherheit, heute stattfinden, dann würden die Republikaner diese Abstimmung nicht wie gestern mit einer einzigen Stimme zu ihren Gunsten entscheiden. Sie hätten eine zweite schmerzliche Niederlage einstecken müssen.
Die hauchdünne Mehrheit ist auch der Grund, weshalb eine sehr seltene Regel im Abgeordnetenhaus zur Anwendung kommen könnte, die sogenannte «discharge petition». Dieses Instrument würde es den Demokraten erlauben, eine Abstimmung über das vom Senat bereits genehmigte Gesetz zu erzwingen, sollten mindestens vier Republikaner sich gegen den eigenen Speaker wenden.
Ob Hakeem Jeffries, der Minderheitsführer der Demokraten im Abgeordnetenhaus, zu «discharge petition» greifen wird, ist ungewiss. Sicher ist einzig, dass er in einem Brief an seine Kollegen erklärt hat, er werde «jedes verfügbare gesetzliche Instrument» zur Anwendung bringen, um dem Hilfspaket zum Durchbruch zu verhelfen.
Auch Joe Biden hat sich mittlerweile eingeschaltet. Als Präsident verfügt er über das sogenannte «bully pulpit», will heissen, er kann von seinem Rednerpult aus ordentlich Druck machen. Und genau das tut er jetzt auch: «Ich fordere den Speaker auf, das Abgeordnetenhaus frei entscheiden zu lassen, es nicht zuzulassen, dass eine Minderheit der extremsten Stimmen verhindern kann, dass über ein Gesetz abgestimmt wird», so der Präsident am Dienstag.
Gleichzeitig benutzte Biden die Gelegenheit auch, um mit Trump und dessen unverantwortlichen Äusserungen zu NATO und Putin abzurechnen. «Steht für Anstand und die Demokratie ein», so der Präsident. «Steht gegen einen vermeintlichen Führer auf, der wild entschlossen ist, die amerikanische Sicherheit zu schwächen. Die Geschichte sieht euch zu.»
Schliesslich können die Demokraten Speaker Johnson an dessen eigene Worte erinnern. Kurz nach der Amtsübernahme hat dieser gegenüber Fox News erklärt: «Wir können es nicht zulassen, dass Wladimir Putin in der Ukraine den Sieg davonträgt, denn ich bin überzeugt, dass er dann nicht aufhören würde. Er würde wahrscheinlich China auffordern, das Gleiche mit Taiwan zu machen. Wir haben diese Bedenken, und wir werden die Ukrainer nicht im Stich lassen.»
Gut gebrüllt, Löwe. Mike Johnson hat nun die Wahl, sich an sein Wort zu halten und wie ein Mann dazustehen. Oder er kann die Abstimmung mit allen Tricks zu verhindern suchen – und sich so als rückgratloser Speichellecker im Dienste von Trump erweisen.