«Ab ins Asowsche Meer!», ruft Ivan. An einem Strand von Mariupol, im von Moskau kontrollierten Osten der Ukraine, gibt man sich betont jovial, um die Kulisse vergessen zu lassen: eine verwüstete Stadt, aus der Russland einen Badeort machen will.
Hier, um das Asowsche Meer zu geniessen – es grenzt unter anderem an den Donbass und die Krim –, ist Ivan (Name geändert), 52, der nach eigenen Angaben aus der Stadt stammt. «Mariupol war, ist und bleibt russisch», verkündet der Familienvater am überfüllten Strand. Ein Satz, den Moskau, das die Stadt seit Mai 2022 kontrolliert, gebetsmühlenartig wiederholt. Erobert wurde sie nach einer Belagerung, die laut der ukrainischen Exil-Stadtverwaltung von Mariupol 22'000 Zivilisten das Leben kostete und gemäss Uno 90 Prozent der Wohnhäuser zerstört oder beschädigt hat.
Die Schlacht hat die Stadt weitgehend entvölkert: Laut ukrainischen Behörden lebten dort vor Februar 2022 und dem Beginn der russischen Grossoffensive in der Ukraine über 540'000 Einwohnerinnen und Einwohner. Nach denselben Angaben flüchteten damals mehr als 300'000 Menschen.
Im Frühjahr 2022 pries Russlands Präsident Wladimir Putin die «Befreiung» dieser traditionell russischsprachigen Stadt, während Kiew – ebenso wie die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft – von «Besatzung» spricht. Im September 2022 verkündete Russland dann die Annexion der Region Donezk, zu der Mariupol gehört, sowie der Regionen Luhansk, Saporischschja und Cherson – obwohl es diese Gebiete nicht vollständig kontrolliert.
In der Ukraine ist der Widerstand der ukrainischen Truppen in Mariupol zu einem Symbol für die Resilienz des Landes geworden. Die Kämpfer, die die Stadt verteidigt haben, gelten als «Helden» – besonders jene, die während der Belagerung des Stahlwerks Asowstal gefallen sind.
Auch heute noch laufen die 2022 vom russischen Vizepremier Marat Chusnullin versprochenen Betonmischer für «den Wiederaufbau Mariupols in drei Jahren» auf Hochtouren. Lastwagen voller Betonblöcke teilen sich die Fahrbahn mit russischen Militärfahrzeugen, die zur Front unterwegs sind oder von dort zurückkehren – zwei Autostunden von hier.
Russland hat den Wiederaufbau Mariupols versprochen – und will die Hafenstadt zum Aushängeschild dafür machen, dass es den von ihm kontrollierten Regionen in der Ukraine Wohlstand bringen kann. Für Denys Kotschubej, den im Exil lebenden ukrainischen Vizebürgermeister von Mariupol, ist das jedoch «ein Propagandaprojekt im grossen Stil». Ziel sei, die Erinnerung an die Zerstörungen zu «tilgen» und den Eindruck zu erwecken, Russland habe «Entwicklung gebracht», sagt er.
Am Stadteingang, hinter dem stillgelegten Gerippe von Asowstal – dem Symbol Mariupols seit Sowjetzeiten –, ragen von Moskau errichtete Wohnblocks in die Höhe. Hier wohnt Galina Giller, 67, Rentnerin und Witwe. Im Mai 2024 hat sie von den neuen Behörden gratis eine Zweizimmerwohnung zugeteilt bekommen.
Sie flüchtete 2022 vor den Kämpfen zunächst nach Donezk, weiter nördlich, später auf die Krim – eine ukrainische Region, die Russland 2014 annektiert hatte – und sagt, sie verfolge die Entwicklung des Krieges. «Mir tun die ganz normalen Menschen zutiefst leid», erklärt sie.
Wie alle, die wir in Mariupol angetroffen haben, hat Galina Giller – nach eigenen Angaben unter anderem mit kosakischen und griechischen Wurzeln – Russisch als Muttersprache. Und obwohl sie weiterhin die ukrainische Staatsangehörigkeit besitzt, hat sie kürzlich einen russischen Pass erhalten.
Moskau hat 3,5 Millionen Pässe an Bewohnerinnen und Bewohner der von ihm kontrollierten Gebiete im Osten der Ukraine verteilt. Aus Sicht von Kiew ist dieses Vorgehen «illegal», weil es die ukrainische Souveränität verletze. In den von Moskau kontrollierten ukrainischen Regionen macht die russische Staatsangehörigkeit Behördengänge deutlich einfacher – etwa, um Sozialleistungen zu erhalten oder eine Enteignung durch die neuen Behörden zu vermeiden.
Ein im März veröffentlichter Erlass Wladimir Putins verpflichtet Ukrainerinnen und Ukrainer, die in den von Russland kontrollierten Gebieten in der Ukraine leben, bis September 2025 ihren «Rechtsstatus zu klären»: entweder die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen oder sich als in Russland wohnhafte ausländische Person registrieren zu lassen.
In Mariupol ist der Rubel König. Telefonvorwahl und Autokennzeichen folgen dem russischen Muster. In einem Park, in dem russische Fahnen im Wind wehen, ehren Porträts von während der Belagerung gefallenen russischen Soldaten die «Helden unserer Zeit» – eine Anspielung auf den gleichnamigen Roman des russischen Schriftstellers Michail Lermontow.
«Ich sehe hier keine Besatzung», versichert Renald, 33, der ein T-Shirt mit dem Wagner-Logo trägt – der bekanntesten russischen Söldnergruppe, die an den Kämpfen im Osten der Ukraine beteiligt war, inzwischen aber zerschlagen ist.
Wie die meisten, die bereit sind, mit einem ausländischen Medium zu sprechen, möchte Renald seinen Nachnamen nicht nennen.
Wer die russische Herrschaft ablehnt, schweigt lieber – oder hat Mariupol verlassen. Denn das Risiko, im Gefängnis zu landen, ist gross: Im Osten der Ukraine verhaften die russischen Behörden regelmässig Menschen, denen «Zusammenarbeit» mit Kiew vorgeworfen wird, und verurteilen sie zu langen Haftstrafen. Die Repression gegen abweichende Stimmen trifft auch solche, die die Armee «diskreditieren».
Tetiana, deren Vater während der Belagerung getötet wurde, ist aus Mariupol geflohen und lebt heute ausserhalb der Ukraine. Die Zerstörung der Stadt kritisiert sie scharf. Zurückkehren will sie nicht – aus Angst, ihr könnte «etwas Schlimmes» passieren.
Im Zentrum von Mariupol sind zahlreiche Gebäude saniert. Cafés und Supermärkte haben geöffnet. Bars locken die Kundschaft mit Techno an, und auf dem Lenin-Prospekt serviert das Restaurant «Mak Fly» Burger und Pommes.
Das zentrale Theater wird derzeit wiederaufgebaut. Gemäss der Menschenrechtsorganisation Amnesty International kamen bei seiner Bombardierung im März 2022 «mindestens ein Dutzend Menschen, vermutlich deutlich mehr» ums Leben.
Die ukrainischen Behörden geben an, das Gebäude habe Zivilpersonen als Schutzraum gedient. Davor sei das Wort «DETI» («Kinder») gross genug aufgemalt gewesen, um zum Zeitpunkt des Angriffs aus der Luft sichtbar zu sein. Die von Russland eingesetzte neue Stadtverwaltung liess wiederholte Anfragen zur Rekonstruktion der Stadt unbeantwortet.
Eines der auffälligsten Zeichen dafür, wie fest Moskau die Zügel wieder in die Hand genommen hat, ist die Einweihung des Schdanow-Museums zu Jahresbeginn – geschaffen «per Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation», Wladimir Putin, wie dessen Direktor Pawel Ignatjew erklärt.
Errichtet am Standort eines früheren Museums für lokale Folklore, ist das Schdanow-Museum dem Sohn der Stadt und Stalin-Vertrauten Andrei Schdanow (1896–1948) gewidmet. Er setzte die kulturelle Linie der Kommunistischen Partei und war einer der Architekten der stalinistischen Repression. Die UdSSR benannte Mariupol von 1948 bis 1989 in Schdanow um.
Der Museumsdirektor weist die Vorwürfe gegen Schdanow zurück: «Historiker (…) haben kein einziges Dokument gefunden, auf dem die Unterschrift von Andrei Alexandrowitsch Schdanow irgendeine Form von Repression, Exekutionslisten oder Vertreibungen ermöglicht hätte.»
Verlässt man das Zentrum, sieht man in den stillen Gassen Häuser, die von den Kämpfen schwer gezeichnet sind. An manchen Türen sind noch immer Einschusslöcher zu sehen – und Aufschriften auf Russisch: «Kinder», «Bewohner» oder «Leichen». Es sind Warnhinweise für Soldaten aus der Zeit der Belagerung.
Wie wir feststellen konnten, sind Strom- und Wasserausfälle sehr häufig. Wer hier lebt, muss Wasser auf Vorrat halten. Mariupol ist noch weit davon entfernt, dem Badeort zu gleichen, den sich Moskau und die lokalen Behörden nach dem Vorbild von Sotschi am Schwarzen Meer ausmalen.
Alexander Golowko, ein Verantwortlicher des regionalen Tourismussektors, erklärte im Februar, der Donbass der Zukunft solle ein «ökologisches Paradies» umfassen – und Mariupol einen «postindustriellen Park», um Touristen an die Ufer des Asowschen Meeres zu locken.
Von der Strandidylle kann Sergei, 52, nur träumen. Er lebt mit seinen Hunden in einem verfallenen Haus, dessen Garten von Unkraut überwuchert ist. Er erinnert sich an den «ununterbrochenen Beschuss» während der Belagerung. Die Kämpfe haben einen Teil seines Hauses zerstört. Noch heute fehlt das Dach.
Sergei, der Werbetafeln herstellt, ist «dreimal» zu den lokalen Behörden gegangen, um zu klären, ob er irgendeine Unterstützung bekommen könnte – «aber die wussten es selber nicht». Also liess er es bleiben.
Unabhängige russische Medien berichten von Korruptionsverdacht beim Wiederaufbau Mariupols.
Die im Exil tätige Stadtverwaltung von Mariupol gibt an, die russischen Behörden stellten Listen «herrenloser» Wohnungen zusammen. Diese würden an die Gerichte weitergeleitet, die dann entscheiden, Wohnungen an jene zu vergeben, deren Wohnraum 2022 zerstört wurde. Zudem ermutigen die russischen Behörden – mit Unterstützung der Privatwirtschaft – Russinnen und Russen, sich in der Stadt niederzulassen.
So etwa die russische Maklerkette Ayax, die – wie ihre Direktorin Luisa Naliwaj erklärt – «seit dem ersten Tag nach Ende der Kampfhandlungen» in Mariupol präsent ist. Ihren Angaben zufolge ist der Quadratmeterpreis für Neubauten von 85'000 Rubel (rund 795 Franken im Jahr 2022) auf heute 200'000 Rubel gestiegen – also etwa 1980 Franken.
Naliwaj führt den Preisschub unter anderem auf den Zinssatz von nur 2 Prozent für Hypothekarkredite zurück, den Moskau Russinnen und Russen anbietet, die sich in Mariupol niederlassen wollen – während der Satz in Russland bei über 20 Prozent liegt.
Wer zieht also nach Mariupol? «Vor allem Leute aus verschiedenen Regionen Russlands. Einige kommen zum Arbeiten, verlieben sich in die Stadt und ihr mildes Klima – und holen dann ihre Familie nach», sagt sie. Die Luft sei heute «viel besser», schwärmt sie, «weil die Metallwerke derzeit stillstehen».
Genau das hat auch Elena angezogen. Sie hat Jekaterinburg im russischen Ural verlassen und sich letztes Jahr in Mariupol eine Wohnung gekauft. «Das ist eine Investition», sagt die Kosmetikerin.
Mit Badeort-Entspannung hat das wenig zu tun: Überwachung – und die Angst, die sie schürt – sind in Mariupol allgegenwärtig. Zum Beleg: Nachdem er ein Interview gegeben hatte, tauchte ein Bewohner tags darauf an einem anderen Ort der Stadt wieder auf und erklärte, er habe uns «zufällig» wiedergefunden.
«Nachdem ich mit Ihnen gesprochen hatte, hat mich ein bulliger Typ vor Ausländern gewarnt. Ich sagte ihm, er könne gern zur Polizei gehen, wenn er wolle», sagte der Bewohner unter Wahrung der Anonymität. «Ich habe ja nichts Belastendes gesagt», schloss er – fast so, als wolle er sich selbst beruhigen.
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Vor allem der letzte Satz - beschreibt den Stereotypen der "russischen Seele" ganz gut. Man akzeptiert, vertraut und hofft.