Der NATO-Gipfel in Vilnius stand ganz im Zeichen von Putins schändlichem Krieg. Und er war ein Erfolg: Die Türkei gab endlich ihren Widerstand gegen die Aufnahme von Schweden auf. Die 31 NATO-Mitglieder stellten sich geschlossen hinter die Ukraine und versprachen weitere umfangreiche Hilfsprogramme.
Weniger beachtet wurde hingegen, dass in Vilnius auch Gäste aus dem Fernen Osten anwesend waren. Ebenso, dass im Abschluss-Communiqué auffallend oft von China die Rede war. Das war kein Zufall. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hält dazu im Magazin «Foreign Affairs» fest: «Die chinesische Regierung setzt aussenpolitisch zunehmend auf Zwang und innenpolitisch auf Repression. Das fordert die Sicherheit der NATO und ihre Werte und Interessen heraus.»
Das Versprechen von Xi Jinping an seinen Kumpel Wladimir Putin, Russland bedingungslos zu unterstützen, beeinflusst die künftige NATO-Strategie daher nachhaltig. «Je näher die autokratischen Regimes zusammenrücken, desto stärker müssen auch die Länder zusammenhalten, die für Freiheit und Demokratie einstehen», so Stoltenberg weiter. «Die NATO ist zwar eine regionale Allianz zwischen Europa und Nordamerika, aber die neuen Herausforderungen sind global. Deshalb habe ich neben den Staatsoberhäuptern der Europäischen Union auch die Partner aus dem Indopazifik – Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea – nach Vilnius eingeladen.»
Der Krieg in der Ukraine und die vom Westen verhängten Sanktionen mögen die Bande zwischen Russland und China verstärkt haben. Umgekehrt schliessen sich auch die Reihen in der NATO. So erklärt Mathieu Droin vom Center for Strategic and International Studies gegenüber dem «Wall Street Journal»: «Die Mitgliedsländer sind immer fester davon überzeugt, dass China und Russland die beiden Seiten der gleichen Münze sind. Und sie sind auch zunehmend davon überzeugt, dass man die chinesische Herausforderung annehmen muss.»
Die chinesische Herausforderung annehmen heisst, sich nach Partnern in Asien umzuschauen. Denn nebst Putins Krieg und der Klimaerwärmung stellt das prekäre Verhältnis zwischen den USA und China derzeit die grösste Gefahr für Frieden und Wohlstand auf der Welt dar.
Dieses Verhältnis ist geprägt von einem tiefen gegenseitigen Misstrauen. Die USA befürchten, dass China die künstliche Intelligenz für militärische Zwecke einsetzen will, und sehen es als erwiesen an, dass Huawei und TikTok dazu missbraucht werden, unerlaubt Daten von amerikanischen Bürgern zu sammeln. Peking seinerseits geht von der paranoiden Vorstellung aus, dass die USA China so eindämmen wollen, wie sie es im Kalten Krieg mit der UdSSR getan haben.
Das tief sitzende Misstrauen bewirkt, dass kleinste Ereignisse grosse Folgen haben können, so beispielsweise jüngst die an sich lächerliche Affäre um einen chinesischen Spionage-Ballon über den USA. Die zunehmenden Spannungen haben auch Auswirkungen auf die anderen Länder. Sie werden gegen ihren Willen gedrängt, Stellung zu beziehen. «Die grosse Mehrheit der indopazifischen und der europäischen Länder will nicht in einer für sie unmöglichen Wahl gefangen sein», erklärte Joseph Borell, der Aussenbeauftragte der EU, an einem Meeting des indopazifischen Forums in Brüssel.
Offiziell müssen sie dies auch nicht. So haben im vergangenen Juni der US-Aussenminister Anthony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin an einer Konferenz in Singapur versichert, dass Washington keineswegs verlange, «dass man sich zwischen uns und einem anderen Land entscheiden müsse».
Wer’s glaubt. In «Foreign Affairs» stellt der amerikanische Sicherheitsexperte Richard Fontaine unmissverständlich klar: «Es wird bald nicht mehr möglich sein, auf dem Zaun zu sitzen. (…) Der amerikanisch-chinesische Wettbewerb ist zu einem Phänomen in der heutigen Welt geworden, dem man nicht mehr ausweichen kann. Und Washington sollte aufhören, so zu tun, als ob dies nicht so sei.»
Begonnen hat die Eskalation mit Huawei. Dieses IT-Unternehmen ist führend, was die 5G-Technologie betrifft. Doch die USA setzen alle Hebel in Bewegung, um zu verhindern, dass ihre Verbündeten mit dem chinesischen Unternehmen zusammenarbeiten. Donald Trump drohte so beispielsweise Polen, er werde seine Truppen zurückziehen, sollte Warschau sich auf einen Deal mit Huawei einlassen.
Unter Präsident Biden verschärfte sich dieser Konflikt zu einem Chip War. Die USA verboten den Export von modernsten Chips nach China. Peking antwortete mit dem Bann von Halbleitern des amerikanischen Herstellers Micron und dem Verbot der Ausfuhr von Seltenen Erden in den Westen.
Auch auf anderen Gebieten geht das Seilziehen weiter. China ist verärgert, weil die Amerikaner in Südkorea das Raketenabwehrsystem THAAD aufgestellt haben. Washington hat gar keine Freude daran, dass China in den Vereinigten Arabischen Emiraten einen Hafen baut, der auch für militärische Zwecke gebraucht werden kann.
Obwohl Washington und Peking den Dialog nach dem Ballon-Zwischenfall wieder aufgenommen haben, bleibt der Grundkonflikt bestehen. «Die Anzahl der unvermeidbaren Dilemmata wird zunehmen, weil die amerikanisch-chinesische Rivalität zunehmen wird», so Fontaine.
Neutralität wird unter diesen Umständen zu einem Fremdwort werden. «Länder können nicht mehr länger den Fünfer und das Weggli haben», so Fontaine sinngemäss. «Die Zeit, sich zu entscheiden, ist gekommen.»
Die NATO ihrerseits muss ihr Motto modifizieren, wonach ihr Zweck darin besteht, die Deutschen am Boden und die Russen draussen zu halten. Neu muss es heissen: Die Russen draussen, die Amerikaner drinnen und die Chinesen vom Leib – und die NATO zusammenzuhalten.
Das sind nun mal feindliche Positionen und ich verstehe nicht wieso man jetzt etwas verwundert dies feststellt.
Kleiner Tipp fürs journalistische Handwerk: Entweder ist etwas wörtlich zitiert. Dann gehört es in Anführungszeichen. Oder es wird sinngemäss zusammengefasst. Dann gehört es in die indirekte Rede.
Ich weiss nicht, was Fontaine wirklich gesagt hat und kann drum nicht beurteilen, welche interpretation richtig ist. Aber das ist ja genau das Problem.
Klar, ist hier nicht so wichtig. Aber grundsätzlich finde ich schon, dass man das richtig machen sollte.
Das ist sehr gut.
Unsere abgeranzte Schwurblerneutralität ist nicht mehr zeitgemäss. Wie kann man nur neutral sein im Ukrainekrieg?