Friedrich Merz hätte sich ein besseres Ergebnis gewünscht. Seine Union aus CDU und CSU hat die Bundestagswahl gewonnen, jedoch die 30 Prozent verpasst. Dennoch wird Merz der nächste deutsche Bundeskanzler, auch wenn unklar ist, mit wem er regieren wird. Er hat einen Kraftakt vor sich, und das nicht, weil er mit 69 Jahren noch nie regiert hat.
Bei seinem ersten Auftritt im Konrad-Adenauer-Haus am Sonntagabend liess er sich eine allfällige Enttäuschung nicht anmerken. «Es geht darum, so schnell wie möglich eine handlungsfähige Regierung zu bilden», betonte Merz. Denn angesichts der Probleme in der Sicherheits-, Wirtschafts- und Migrationspolitik muss Deutschland rasch handeln.
Man kann einmal mehr Roman Herzog zitieren: «Durch Deutschland muss ein Ruck gehen», forderte der damalige CDU-Bundespräsident in einer Rede im Frühjahr 1997. Es war eine schwierige Zeit für die Bundesrepublik, sie litt unter einem Reformstau und den Lasten der Wiedervereinigung mit der DDR. Zeitweise wurden über fünf Millionen Arbeitslose gezählt.
Es dauerte einige Jahre, bis Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mit der Agenda 2010 für den notwendigen Ruck sorgte. Deutschland erlebte eine Art zweites Wirtschaftswunder, wenn auch zum Preis eines grossen Tieflohnsektors. Es geschah, was in solchen Fällen oft geschieht: Man ruhte sich auf den Lorbeeren aus und ignorierte die Zukunft.
Angela Merkel trug in ihrer 16-jährigen Amtszeit ihren Anteil dazu bei. Sie bewirtschaftete die politische Mitte und verwaltete den Status quo. Die Sicherheit wurde an die USA ausgelagert, die Energieversorgung an Russland und der wirtschaftliche Erfolg an China. Nun sind alle drei vermeintlichen Erfolgsfaktoren kollabiert oder instabil geworden.
Die gescheiterte Ampel-Regierung war in dieser Hinsicht nicht so schlecht wie ihr Ruf. Sie hat wichtige Weichenstellungen vorgenommen, auch bei der unter Merkel vernachlässigten Infrastruktur. Beim Atomausstieg aber kam Ideologie vor Vernunft, und für den geschrumpften Tieflohnsektor war vor allem das knappe Arbeitskräfteangebot verantwortlich.
Häufig zählt der letzte Eindruck, und die Ampel aus SPD, Grünen und FDP war heillos zerstritten. Die drei Parteien zahlten dafür einen hohen Preis, mit beträchtlichen Verlusten. Besonders hart traf es die SPD, die das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte verbuchte, und die FDP, die vermutlich erneut aus dem Bundestag fliegt, während die Grünen dank ihrer Basis den Schaden in Grenzen hielten.
Deutschland ist eine tief verunsicherte Republik. Anders als vor 30 Jahren summieren sich die Herausforderungen. Der Politologe Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München spricht vom Ende der Nachkriegsordnung seit 1945. Die «Schutzmacht» USA ist unter Donald Trump nicht auf dem Rückzug, sie geht auf Konfrontationskurs.
Elon Musk wirbt in einer Unverfrorenheit für die rechtsradikale AfD, die ihresgleichen sucht. Sie hat von der Verunsicherung und dem Vertrauensverlust in die traditionellen Parteien profitiert, auch wenn ihre Rezepte Deutschland in Rekordzeit ruinieren würden. Immerhin liegt ihr Ergebnis von rund 20 Prozent am unteren Ende der (eigenen) Erwartungen.
Die Häufung von Terroranschlägen in den letzten Wochen hat die extreme Rechte nicht zusätzlich beflügelt, was für die Reife der deutschen Wählerinnen und Wähler spricht. Das ändert nichts daran, dass die realen und komplexen Probleme beim Thema Migration angepackt werden müssen, auch wenn Merz’ Hauruck-Rezepte kaum umsetzbar sind.
Klar ist, dass sich die Parteien nicht wie in früheren Jahren unendlich viel Zeit für die Bildung einer Koalition nehmen können, auch wenn es schwierig werden dürfte. Denn Europa braucht ein starkes Deutschland, das sehr viel Energie in Innovation und Modernisierung steckt. Ein ambitioniertes Reformprogramm ist ein absolutes Muss für die Regierung Merz.
Einfach wird das nicht, vor allem, wenn eine «Kenia-Koalition» mit SPD und Grünen für eine stabile Mehrheit im neuen Bundestag notwendig werden sollte. Doch durch Deutschland muss wieder ein Ruck gehen. Ein Hoffnungsschimmer ist, dass die Parteien (ausser AfD, BSW und den «Höhenfliegern» der Linken) den Ernst der Lage erkannt zu haben scheinen.
Die grösste Chance für Friedrich Merz und seine Regierung liegt darin, dass die Erwartungen tief sind und fast nur übertroffen werden können. Oder müssen, sonst werden die Populisten weiter zulegen. Die grösste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung 1990 ist ein weiterer Lichtblick. Die Deutschen mögen unzufrieden sein, aber sie sind nicht politikverdrossen.
Danke, endlich.