«The Beginning of the End for Putin?», fragen sich die beiden Politologinnen Andrea Kendall-Taylor und Erica Frantz im Magazin «Foreign Affairs». Das ist mehr als naives Wunschdenken. Die beiden Frauen wissen, wovon sie sprechen. Kendall-Taylor war lange Russland-Analystin beim CIA und ist heute an der Denkfabrik Center for a New American Security tätig. Frantz ist Professorin an der Michigan State University.
«Repressive Regimes wie dasjenige von Putins Russland sehen oft stabil aus, bis sie es plötzlich nicht mehr sind», stellen Kendall-Taylor/Frantz fest. «Putin ist mit dem Angriff auf die Ukraine ein sehr grosses Risiko eingegangen, und es gibt eine Chance – eine, die immer wahrscheinlicher wird –, dass dies der Beginn seines Endes sein könnte.»
Es gibt eine Reihe von Gründen, welche diese These stützen. Hier sind sie:
Wie immer sich das Kriegsgeschehen in der Ukraine auch entwickeln wird, eines steht bereits fest: Wladimir Putin hat die Propagandaschlacht verloren, und zwar haushoch. Hinter seinen absurd langen Tischen wirkt er bloss noch lächerlich. Wie der Historiker Yuval Noah Harari im «Guardian» schreibt, haben die Ukrainer hingegen innert Tagen sehr wirkungsvolle Helden-Geschichten aus dem Hut gezaubert:
Wir Schweizer wissen da Bescheid. Schliesslich erzählen wir uns heute noch die Heldentaten von Wilhelm Tell und Winkelried.
Tennisstars haben neuerdings den Tick, nach einem gewonnenen Match etwas mit einem Filzstift in eine TV-Kamera zu schreiben. Der russische Spieler Andrei Rublew tat dies kürzlich in Dubai und kritzelte: «No war». Als einzelne Tat mag dies unbedeutend sein, als Symbol für den wachsenden Missmut in der russischen Bevölkerung ist es bezeichnend.
Die Eroberung der Krim wurde einst gefeiert, weil sie als Teil des Mutterlandes empfunden wird. Der Krieg in Syrien hat die Russinnen und Russen weitgehend kaltgelassen. Die Invasion der Ukraine ist anders. Die Menschen in Russland haben ein schlechtes Gewissen. So schreibt Alexey Kowalew, ein unabhängiger Journalist, in der «New York Times»:
Der Kreml hat die Radiostation Echo Moskwy und den TV-Sender Doschd (Regen), zwei der letzten unabhängigen Medien, schliessen lassen. Das russische Parlament, die Duma, hat ein Gesetz erlassen, mit dem jene, die angebliche Fake News verbreiten, mit 15 Jahren Gefängnis bestraft werden. Die schreckliche Wahrheit über die Ereignisse in der Ukraine werden sie damit langfristig nicht verheimlichen können.
Im Zeitalter von Twitter, TikTok und Facebook ist dies unmöglich geworden. Selbst der Propagandasender RT musste nun bekannt geben, dass 500 russische Soldaten gefallen seien. Das wird die Unruhe in der Bevölkerung – allen voran bei den Müttern – nochmals massiv verstärken. Bereits jetzt treffen bei der Soldaten-Meldestelle «Die Mütter von Russland» täglich mehr als 2000 Anrufe mit der immer gleichen Frage ein: «Wo ist mein Sohn? Lebt er noch?»
Millionen werden am kommenden Wochenende gegen die russische Invasion protestieren. Milliarden sind bereits für die Opfer dieses Krieges gespendet worden. Kaum ein internationaler Konzern, der nicht die Tätigkeit in Russland aufs Eis gelegt hat. Russlands Finanzsystem ist weitgehend vom Rest der Welt abgehängt. In der UNO hat Putin noch gerade mal vier Verbündete: Belarus, Nordkorea, Syrien und – aus unerfindlichen Gründen – Eritrea.
Niemand hätte je mit einer solchen Solidaritätswelle rechnen können. Bereits steht fest: Putin hat eine Zeitenwende eingeleitet – und sie könnte sich gegen ihn wenden.
Diktatoren beherrschen etwas meisterhaft: sich an der Macht zu halten. Sie verfügen über einen rücksichtslosen Geheimdienst und schrecken auch vor den scheusslichsten Gräueltaten nicht zurück. Putin reiht sich inzwischen nahtlos in diese Horror-Galerie der Monster ein. Doch ein Krieg kann über Nacht alles ändern. Der russische Zar Nikolaus II sass ebenfalls fest auf seinem Thron – bis der Erste Weltkrieg ausbrach.
Na dann hoffen wir mal, dass es für Putin keinen Weltkrieg braucht.
Interessant jedenfalls wird das kommende WE, die russische Opposition hat zu landesweiten Kundgebungen gegen den Krieg aufgerufen.