International
Analyse

Die Ukraine erlässt neuen Mobilisierungsgesetz

Analyse

Neues Mobilisierungsgesetz in der Ukraine könnte zu Protesten führen

Das ukrainische Parlament hat ein neues Mobilisierungsgesetz beschlossen. Doch Präsident Selenskis Projekt stösst auch auf heftige Kritik.
11.04.2024, 19:3112.04.2024, 06:56
Paul Flückiger, Warschau / ch media
Mehr «International»
A Ukrainian soldier smokes in a trench at the line of separation from pro-Russian rebels, Donetsk region, Ukraine, Monday, Jan. 10, 2022. President Joe Biden has warned Russia's Vladimir Putin th ...
Ein ukrainischer Soldat raucht in einem Schützengraben in der Donetsk Region. Bild: AP

Die ukrainische Armee braucht dringend Soldaten. Dafür sorgen soll nun ein Gesetz, über das im Parlament in Kiew wochenlang gestritten wurde. Am Donnerstag wurde es endlich verabschiedet. Das neue Mobilisierungsgesetz soll dem Heer alleine dieses Jahr mindestens 450'000 neue Rekruten bescheren.

Die Novelle zielt darauf ab, die Registrierung von wehrfähigen Männern zu verschärfen und Ausnahmen vom Militärdienst einzuschränken. Ausserdem werden höhere Strafen für Drückeberger und offene Kriegsdienstverweigerer eingeführt.

Neuerdings soll ihnen nebst Bussen auch der zeitlich begrenzte Entzug des Führerausweises drohen. So sollen mehr junge Männer dazu ermuntert werden, ihren Stellungsgesuchen für eine militärische Ausbildung nachzukommen. Eine Wehrpflicht für Frauen wurde nicht eingeführt.

Russlands Armee übernimmt die Initiative

Die ukrainischen Streitkräfte haben nach mehr als zwei Jahren Abwehrkrieg gegen die russischen Invasoren mit erheblichem Personal-, Waffen- und Munitionsmangel zu kämpfen. Auch übernimmt Russland entlang der gut 1000 Kilometer langen Front zunehmend die Initiative. Laut dem im Februar entlassenen Oberbefehlshaber Waleri Saluschny sind deshalb alleine 2024 eine halbe Million neue Soldaten notwendig.

Staatspräsident Wolodimir Selenski hatte bereits Anfang April per Dekret das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Alleine diese Massnahme soll Zehntausende frischer Kräfte bescheren. Diese allerdings müssen zuerst einmal ausgebildet werden.

Dass es damit hapert und bei der Einberufung zu vielen Ungerechtigkeiten kommt, berichten ukrainische Flüchtlinge und Gastarbeiterinnen in Polen, deren Ehemänner oder Söhne in der Ukraine geblieben sind. «Die Mobilisierung ist zu einem Geschäft verkommen», berichtet Lena K., die seit über zehn Jahren in Warschau arbeitet.

Die Mittfünfzigerin erzählt von einem Verwandten aus dem 8000-Einwohner Städtchen Rohatyn im Südosten von Lwiw (Lemberg), dem versprochen worden sei, der Mobilisierung in diesem Jahr gegen Zahlung von 2000 Dollar zu entgehen. Kaum habe der junge Mann sich soviel Geld beschafft und bezahlt, habe ihn ein anderer Beamter der örtlichen Mobilisierungsstelle tags darauf eingezogen.

Opposition verweigert Zustimmung

Das neue Mobilisierungsgesetz in der Ukraine ist denn auch nach wie vor umstritten. Angenommen wurde es am Donnerstag vor allem von Selenskis Partei der «Volksdiener». Die beiden Oppositionsparteien «Europäische Solidarität» von ex-Präsident Petro Poroschenko und «Batkiwtschina» (Vaterland) von ex-Premierministerin Julia Timoschenko nahmen es nicht an. Sie kritisierten immer noch unklare Strafen und vor allem aber, dass die versprochene Demobilisierung für Frontkämpfer am Mittwochabend kurzzeitig von dem Gesetz abgekoppelt worden war.

Selenskis neuer Oberbefehlshaber Aleksander Syrski hatte kurzfristig einen Verzicht auf die Demobilisierungsklausel gefordert. Angeblich ging es ihm dabei nur um die unklaren Regeln zur Rotation der Truppen. Doch die Opposition befürchtet, dass die Frontsoldaten noch länger dienen müssen. Beobachter in Kiew schliessen Proteste vor allem von Angehörigen wie deren Ehefrauen und Freundinnen in den nächsten Tagen nicht aus.

Derweil reisst der russische Raketenbeschuss auf ukrainische Städte nicht ab. Bei schweren Angriffen auf die Energieinfrastruktur sind seit Mittwoch ein Dutzend Zivilisten getötet worden. Aus dem lange ruhigen Mykolajiw, auf halbem Weg zwischen Cherson und Odessa, wurden bis Donnerstagabend vier Tote und fünf Schwerverletzte gemeldet. (aargauerzeitung.ch/lyn)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
64 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
RobertP
11.04.2024 20:53registriert April 2023
Das Bild von den motivierten freiwilligen Kämpfern auf ukrainischer Seite bröckelt so langsam.

Aus dem heutigen Artikel bei 20min:
"Im Land selbst sind allein in den Gebieten Poltawa, Iwano-Frankiwsk und Tscherniwzi mehr als 70'000 Personen zur Fahndung ausgeschrieben. Bei der Staatsanwaltschaft sind seit Kriegsbeginn mit stark steigender Tendenz über 46'000 Verfahren wegen Desertion und unerlaubtem Entfernen von der Truppe eingeleitet worden. Mehr als ein Viertel davon entfällt auf das erste Quartal 2024."
3320
Melden
Zum Kommentar
64
Donald Trump und die Scham der weissen Arbeiterklasse
Donald Trumps Wahl ist das Resultat einer Geschichte des Verlusts und der Scham der weissen Arbeiterklasse, sagt Arlie Hochschild. Die Soziologin erklärt im Interview, warum Emotionen in der US-Politik entscheidend sind.

Frau Hochschild, als ich Sie am Tag von Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten für ein Interview anfragte, schrieben Sie mir: «Wir stehen alle unter Schock.» Wie geht es Ihnen jetzt, gut einen Monat später?
Arlie Hochschild:
Ich würde sagen, ich und mein Umfeld befinden uns irgendwo in den fünf Phasen der Trauer. Den Schock und die Wut habe ich mittlerweile überwunden. Was bleibt, ist der Schrecken – aber auch die Frage, was wir jetzt tun können. Denn es ist klar, dass nun massive Angriffe auf alles, woran wir glauben, folgen werden. Man könnte sagen, dass ich – und auch meine Freunde und Familie – uns gegen das wappnen, was nun kommt.

Zur Story