Die ukrainische Armee braucht dringend Soldaten. Dafür sorgen soll nun ein Gesetz, über das im Parlament in Kiew wochenlang gestritten wurde. Am Donnerstag wurde es endlich verabschiedet. Das neue Mobilisierungsgesetz soll dem Heer alleine dieses Jahr mindestens 450'000 neue Rekruten bescheren.
Die Novelle zielt darauf ab, die Registrierung von wehrfähigen Männern zu verschärfen und Ausnahmen vom Militärdienst einzuschränken. Ausserdem werden höhere Strafen für Drückeberger und offene Kriegsdienstverweigerer eingeführt.
Neuerdings soll ihnen nebst Bussen auch der zeitlich begrenzte Entzug des Führerausweises drohen. So sollen mehr junge Männer dazu ermuntert werden, ihren Stellungsgesuchen für eine militärische Ausbildung nachzukommen. Eine Wehrpflicht für Frauen wurde nicht eingeführt.
Die ukrainischen Streitkräfte haben nach mehr als zwei Jahren Abwehrkrieg gegen die russischen Invasoren mit erheblichem Personal-, Waffen- und Munitionsmangel zu kämpfen. Auch übernimmt Russland entlang der gut 1000 Kilometer langen Front zunehmend die Initiative. Laut dem im Februar entlassenen Oberbefehlshaber Waleri Saluschny sind deshalb alleine 2024 eine halbe Million neue Soldaten notwendig.
Staatspräsident Wolodimir Selenski hatte bereits Anfang April per Dekret das Mobilisierungsalter von 27 auf 25 Jahre gesenkt. Alleine diese Massnahme soll Zehntausende frischer Kräfte bescheren. Diese allerdings müssen zuerst einmal ausgebildet werden.
Dass es damit hapert und bei der Einberufung zu vielen Ungerechtigkeiten kommt, berichten ukrainische Flüchtlinge und Gastarbeiterinnen in Polen, deren Ehemänner oder Söhne in der Ukraine geblieben sind. «Die Mobilisierung ist zu einem Geschäft verkommen», berichtet Lena K., die seit über zehn Jahren in Warschau arbeitet.
Die Mittfünfzigerin erzählt von einem Verwandten aus dem 8000-Einwohner Städtchen Rohatyn im Südosten von Lwiw (Lemberg), dem versprochen worden sei, der Mobilisierung in diesem Jahr gegen Zahlung von 2000 Dollar zu entgehen. Kaum habe der junge Mann sich soviel Geld beschafft und bezahlt, habe ihn ein anderer Beamter der örtlichen Mobilisierungsstelle tags darauf eingezogen.
Das neue Mobilisierungsgesetz in der Ukraine ist denn auch nach wie vor umstritten. Angenommen wurde es am Donnerstag vor allem von Selenskis Partei der «Volksdiener». Die beiden Oppositionsparteien «Europäische Solidarität» von ex-Präsident Petro Poroschenko und «Batkiwtschina» (Vaterland) von ex-Premierministerin Julia Timoschenko nahmen es nicht an. Sie kritisierten immer noch unklare Strafen und vor allem aber, dass die versprochene Demobilisierung für Frontkämpfer am Mittwochabend kurzzeitig von dem Gesetz abgekoppelt worden war.
Selenskis neuer Oberbefehlshaber Aleksander Syrski hatte kurzfristig einen Verzicht auf die Demobilisierungsklausel gefordert. Angeblich ging es ihm dabei nur um die unklaren Regeln zur Rotation der Truppen. Doch die Opposition befürchtet, dass die Frontsoldaten noch länger dienen müssen. Beobachter in Kiew schliessen Proteste vor allem von Angehörigen wie deren Ehefrauen und Freundinnen in den nächsten Tagen nicht aus.
Derweil reisst der russische Raketenbeschuss auf ukrainische Städte nicht ab. Bei schweren Angriffen auf die Energieinfrastruktur sind seit Mittwoch ein Dutzend Zivilisten getötet worden. Aus dem lange ruhigen Mykolajiw, auf halbem Weg zwischen Cherson und Odessa, wurden bis Donnerstagabend vier Tote und fünf Schwerverletzte gemeldet. (aargauerzeitung.ch/lyn)
Aus dem heutigen Artikel bei 20min:
"Im Land selbst sind allein in den Gebieten Poltawa, Iwano-Frankiwsk und Tscherniwzi mehr als 70'000 Personen zur Fahndung ausgeschrieben. Bei der Staatsanwaltschaft sind seit Kriegsbeginn mit stark steigender Tendenz über 46'000 Verfahren wegen Desertion und unerlaubtem Entfernen von der Truppe eingeleitet worden. Mehr als ein Viertel davon entfällt auf das erste Quartal 2024."