Israels Antwort auf die jüngsten Raketenangriffe aus Iran, so lassen sich die wiederholten Vergeltungsdrohungen verstehen, wird sich womöglich nicht auf symbolische Schläge beschränken. Neben Militärbasen und anderer militärischer Infrastruktur kommen auch grössere Ziele in Betracht. So könnte die israelische Luftwaffe etwa die iranische Öl- und Gasindustrie ins Visier nehmen, um das Regime empfindlich zu treffen. Oder gleich aufs Ganze gehen und das Atomprogramm des Feindes attackieren. Die Versuchung für Israel ist zumindest gross, bei dieser Gelegenheit auch nachhaltig gegen die existenzielle Gefahr vorzugehen, die ein nuklear bewaffnetes Iran darstellen würde. Es spricht allerdings vieles dagegen, nicht nur das Risiko einer weiteren Eskalation.
Zur Ausgangslage: Es fehlt nicht viel, bis Iran die Atombombe hat – diese Einschätzung gilt seit Jahren. Die Entscheidung, die letzten dafür nötigen Schritte zu gehen, hat das Regime offenbar bislang nicht getroffen. Aber glaubwürdig abstreiten kann es kaum noch, sich auf den Weg gemacht zu haben: Iran verfügt über auf 60 Prozent angereichertes Uran (das sonst kein Land ohne Nuklearwaffen besitzt), legt grosse Vorräte an und baut sein Atomprogramm weiter aus, hielt die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) zuletzt fest. Für eine Atombombe braucht es 90 Prozent, aber «technisch gesprochen ist das fast identisch», warnte IAEA-Chef Rafael Grossi im April. Es ist jedenfalls davon auszugehen, dass bereits genügend annähernd waffenfähiges Material für eine kleine Zahl von Nuklearwaffen vorliegt.
Wie schnell Iran auf dieser Grundlage zur Atommacht werden könnte, hängt von vielen Dingen ab. Neben dem geeigneten spaltbaren Material braucht es das Know-how für den Sprengkopf an sich. Und schliesslich: ein Trägersystem, das ihn ins Ziel bringen kann. All das erscheint Beobachterinnen und Beobachtern machbar, teils in wenigen Wochen, teils in Monaten, höchstens in wenigen Jahren. Und mehr noch: Jetzt, da Israels unnachgiebige Schläge gegen die Milizen der «Achse des Widerstands» dem Regime einen Teil seines Gewalt- und Abschreckungspotenzials rauben, ist der Anreiz gewachsen, die letzten Schritte zu gehen. Und damit möglicherweise auch die Veranlassung, genau dies zu verhindern.
Israels Motivation für einen Angriff auf die iranischen Atomanlagen entspringt also nicht allein einer Vergeltungslogik. Fraglich wäre aber dennoch, ob er überhaupt erfolgreich sein könnte. Und selbst wenn ja, wie weit sich Iran damit zurückwerfen lassen würde auf dem Weg zur Bombe. Schon länger räumen selbst israelische Quellen aus dem Sicherheitsapparat gelegentlich ein, dass es eigentlich zu spät ist. Denn das erworbene Know-how lässt sich nicht mehr einfach so wegsprengen. Und was militärisch möglich ist, könnte das Atomprogramm vielleicht für eine Weile verzögern, aber nicht stoppen – zumal die Islamische Republik umso mehr nach der Bombe streben dürfte.
Hinzu kommt die militärisch beachtliche Herausforderung, die entscheidenden Stätten des teils tief verbunkerten Atomprogramms überhaupt vernichtend treffen zu können. Israels Luftwaffe hat zuletzt zwar gezeigt, welche gewaltige Durchschlagskraft ihr Arsenal bereithält, als sie eine unterirdische Kommandozentrale der Hisbollah bombardierte und dabei deren Chef Hassan Nasrallah tötete. Doch die wichtigsten Atomstandorte in Iran sind deutlich geschützter. Etwa die Fordo-Anlage nahe Ghom rund 160 Kilometer südlich von Teheran, wo hochangereichertes Uran produziert wird: mindestens 60 Meter tief im Berg, wenn nicht gar bis zu 90 Meter, kaum erreichbar für die allermeisten Waffen – und ganz sicher ausserhalb der israelischen Möglichkeiten. Auch die Anreicherungsanlage Natans in der Provinz Isfahan rund 300 Kilometer südlich von Teheran soll inzwischen unter einem Berg erweitert worden sein, mehr als doppelt so tief wie Fordo.
Die USA könnten diesen Nachteil theoretisch zumindest etwas verringern. Ihr mächtigster Sprengkörper, der GBU-57 Massive Ordnance Penetrator, wiegt 14 Tonnen und soll sich durch 60 Meter Beton bohren können, bevor die Ladung von zweieinhalb Tonnen explodiert. Allerdings müssten die US-Amerikaner ihn selbst abwerfen, weil Israel keine Jets oder Bomber hat, die ein solches Gewicht tragen könnten. Selbst dann wäre der Erfolg nicht garantiert. Und US-Präsident Joe Biden hat ohnehin bereits deutlich gemacht, was er von einem Angriff auf die iranischen Atomanlagen hält: «Die Antwort lautet nein.»
There is also the legendary GBU-57 used by the B-2, but this would be likely reserved for Iranian nuclear facilities, if at all. pic.twitter.com/963PdewJ18
— Heatloss (@heatloss1986) September 30, 2024
Zumindest aber ist Israel grundsätzlich zu effektiven Schlägen in Iran in der Lage, wie die Reaktion auf den vorigen Drohnen- und Raketenangriff der Islamischen Republik gezeigt hat: Die Entfernung erfordert zwischenzeitliche Luftbetankung während des Anflugs, und Kampfjets müssen Länder wie Jordanien, Saudi-Arabien und den Irak überfliegen. Im April blieb das Ausmass der Antwort dabei noch begrenzt, und es ging wohl vorrangig darum, anzudeuten, wozu man fähig wäre, zunächst offenbar von ausserhalb des iranischen Luftraums.
So wurden unter anderem nahe Isfahan und Natans, also unweit von Atomanlagen, Teile der Luftabwehr beschossen – russische S-300-Systeme, bessere hat Iran nicht. Die Luftabwehr an entscheidenden Orten auszuschalten, wäre sicherlich der erste Schritt einer neuerlichen israelischen Operation. Und die ist zwar stärker als jene des Libanon oder Jemen, wo Israel zuletzt zahlreiche Angriffe geflogen hat, aber überwindbar.
Wenn Israel dann von umfassenden Schlägen auf das Atomprogramm absieht, stellen sich für einige militärische Ziele trotzdem ähnliche Probleme. Auch Teile der Raketen- und Drohnen-Infrastruktur liegen tief verbunkert unter der Erde, stellenweise unter Bergmassiven: Sie liessen sich kaum vollständig zerstören, eher vorübergehend ausser Gefecht setzen. Denkbar wäre trotzdem, dass Israel Militärbasen, Abwehreinrichtungen und Rüstungsstandorte angreift, um die defensiven wie offensiven Fähigkeiten des Regimes weiter zu dezimieren. Die Intensität der Schläge würde entscheiden, ob die Wirkung vorrangig symbolisch oder nachhaltiger ist. Zumindest sind Israels Geheimdiensten ausreichend Erkenntnisse zuzutrauen, um die geeigneten Ziele zu identifizieren.
Diskutiert wird in und mit Israel auch das Szenario eines Angriffs auf die iranische Ölindustrie. US-Präsident Biden antwortete vergangene Woche auf die Frage, ob er einer solchen Attacke zustimmen würde, zunächst: «Wir führen darüber Gespräche.» Schon diese Andeutung liess die Verunsicherung an den Märkten sichtbar werden, die Preise zogen an. Später dann präzisierte Biden seine Position: Er rate Israel, von Angriffen auf iranische Ölfelder abzusehen und über «andere Alternativen» nachzudenken. Ob Premier Netanjahu für solche Ratschläge empfänglich ist, erscheint in diesen Tagen fraglich.
בהמשך להתרעות שהופעלו לפני זמן קצר במרכז הארץ זוהו חמישה שיגורים שחצו ממרחב ח׳אן יונס, זוהו נפילות במרחב.
— Israeli Air Force (@IAFsite) October 7, 2024
יש להמשיך ולהישמע להנחיות פיקוד העורף.
חיל-האוויר ממשיך להיות ערוך בהגנה ובהתקפה בגזרות השונות. pic.twitter.com/hKVBBgxpx6
Terminals, Raffinerien und andere Infrastruktur für Öl und Gas wären sehr viel weniger geschützt als militärische Ziele oder das Atomprogramm. Und zerstörte Anlagen, ob für den Rohölexport oder die heimische Versorgung, wären ein spürbarer Schlag für das Regime. Gerade weil die Wirtschaft ohnehin unter einem weitreichenden Sanktionsregime leidet, die Einnahmen aus dem Export etwa nach China deshalb umso wichtiger sind.
Ob eine solche Antwort auf die Raketen aus Iran «verhältnismässig» wäre, wie Biden im Namen der G7-Staaten gefordert hat – in Israel wird das sicher anders debattiert als anderswo. Netanjahu jedenfalls besteht darauf, das Regime werde «dafür bezahlen», auf eher symbolische Angriffe deutet das nicht hin. Ebenso hart klingen die Androhungen eines dann folgenden Gegenschlags aus Iran. Die nächsten Schritte können also schnell in eine weitere Eskalation führen. Die Sorgen vor einem offenen Krieg werden nicht weniger.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.