Israel hat vor einem Jahr den schlimmsten Tag seiner jungen Geschichte erlebt. Das will etwas heissen in einem Land, das seit seiner Gründung vor 76 Jahren viel durchgemacht hat und in einem Zustand permanenter Bedrohung leben muss. Der Angriff der Hamas-Terroristen am Morgen des 7. Oktober 2023 aber war eine Zäsur.
Praktisch ohne Gegenwehr konnten sie aus dem Gazastreifen nach Israel vordringen. Knapp 1200 Menschen wurden getötet und 251 verschleppt. Der Verbleib von 97 Geiseln ist unklar, rund ein Drittel dürfte nicht mehr am Leben sein. Ein Deal für ihre Heimkehr kam bis heute nicht zustande, zur Erbitterung der Angehörigen.
Es gab durchaus Warnungen, dass sich im Gazastreifen etwas «zusammenbraut», doch sie wurden nicht ernst genommen. Der jüdische Staat hatte sich mit dem Status quo arrangiert. Eine Aufarbeitung des Versagens am 7. Oktober fand bislang nicht statt. Die Regierung von Benjamin Netanjahu möchte eine Untersuchung erst zulassen, wenn der Krieg vorbei ist.
Die Chefs von Armee und Geheimdiensten haben eine Mitschuld eingeräumt, nicht jedoch Netanjahu. Der umstrittene Ministerpräsident spielt auf Zeit, wie fast immer in seiner langen Karriere. Es geht um den Erhalt seiner Koalition mit Rechtsextremen und Orthodoxen, also um seine Macht. Deshalb will er weder einen Geiseldeal noch ein baldiges Kriegsende.
Bislang scheint die Rechnung für Netanjahu aufzugehen. Das kleine Israel erweist sich einmal mehr als militärische «Supermacht». Die Hamas ist weitgehend besiegt, gegen die libanesische Hisbollah gelangen spektakuläre Erfolge, und der Raketenangriff Irans wurde abgewehrt. Einen Plan für die Zukunft aber kann oder will Netanjahu nicht erarbeiten.
Die Hamas existiere als militärische Formation nicht mehr, sagte Verteidigungsminister Joav Galant vor einem Monat. Das mag zutreffen, doch die Islamisten sind zu einer Guerillataktik übergegangen. Die israelische Luftwaffe bombardiert (ehemalige) Spitäler, Schulen und Moscheen, in denen sie Kommandozentralen vermutet. Zivile Opfer nimmt sie in Kauf.
Am Jahrestag des Terrorangriffs konnte die Hamas vier Raketen auf Israel abfeuern. Es war in erster Linie ein Signal: Wir sind noch da! Am Wochenende hat die israelische Armee zudem eine neue Bodenoffensive im Norden des Gazastreifens gestartet. Es kursieren Pläne, die Hamas «auszuhungern», um die Freilassung der Geiseln zu erzwingen.
Dabei hat die Terrororganisation zuletzt bewiesen, dass sie die Geiseln lieber umbringt, als ihre Befreiung zu riskieren. Selbst wenn alle ihre Kämpfer «eliminiert» werden, wird die Hamas in den Köpfen der Menschen weiterhin existieren. Sie werden seit einem Jahr durch den zum grossen Teil zerstörten Gazastreifen getrieben, ohne Aussicht auf Frieden.
Am Tag nach dem Terrorangriff begann die libanesische Hisbollah-Miliz, die wie die Hamas zur iranischen «Achse des Widerstands» gehört, Israel mit Raketen zu beschiessen. Rund 60’000 Menschen mussten aus dem Norden evakuiert werden. Ihre Rückkehr hat für Regierung und Armeeführung oberste Priorität, weshalb sie den Krieg intensiviert hat.
Dabei gelangen Israel aussergewöhnliche Erfolge. Erst explodierten Tausende Pager und Funkgeräte, die mit Sprengstoff präpariert worden waren. Dann gelang es der Luftwaffe, praktisch die gesamte Militärführung der Schiitenmiliz zu töten, ebenso den langjährigen Anführer Hassan Nasrallah. Die Hisbollah wurde von Israel regelrecht enthauptet.
Offenbar ist es den Israelis schon vor längerer Zeit gelungen, die Hisbollah zu infiltrieren. So wussten sie genau über die Pager-Lieferung Bescheid. Die Geräte wurden gemäss der «Washington Post» in Israel selbst manipuliert. Ein totaler militärischer Sieg über die Miliz ist jedoch noch illusorischer als im Fall der Hamas. Denn der Libanon ist nicht Gaza.
Der Iran ist die Schutzmacht von Hamas und Hisbollah sowie weiteren Milizen in der Region. Das Ziel des Mullah-Regimes ist die Zerstörung des «zionistischen Gebildes». Im bisherigen Kriegsverlauf aber erweist sich Iran als «Scheinriese», innerlich zerrüttet und militärisch limitiert. Zwei Raketenangriffe auf Israel konnten weitgehend abgefangen werden.
Iran hat seine Luftabwehr in den letzten Jahren zwar stark ausgebaut, aber sie gilt als weitaus weniger effizient als das israelische Arsenal mit den Systemen Iron Dome, Arrow und David’s Sling. Das zeigte sich beim sehr limitierten israelischen Gegenschlag im April, bei dem offenbar alle anvisierten Ziele in der Islamischen Republik getroffen wurden.
Nun steht ein weitaus umfassenderer israelischer Angriff als Reaktion auf den Raketenbeschuss von letzter Woche im Raum. Selbst das iranische Atomprogramm könnte anvisiert werden, obwohl US-Präsident Joe Biden sich klar dagegen ausgesprochen hat. Das letzte Jahr aber hat gezeigt, wie viel Macht die USA in der Region eingebüsst haben.
Für Benjamin Netanjahu könnte es derzeit kaum besser laufen. Das zeigt sich auch in den Umfragen, laut denen seine Likud-Partei bei Wahlen wieder zur stärksten Kraft werden würde. Allerdings hätte seine heutige Koalition keine Mehrheit. Und eine grosse Mehrheit der Bevölkerung befürwortet ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln aus Gaza.
Netanjahu scheint die Krise «aussitzen» zu wollen. Gleichzeitig hofft er offensichtlich auf einen Sieg von Donald Trump bei den US-Wahlen in vier Wochen. Falls Kamala Harris gewinnt, könnte es für ihn aber schwierig werden. Und ohnehin: Selbst wenn Hamas und Hisbollah militärisch besiegt werden könnten, werden sie nicht einfach verschwinden.
«Israel hat seine Feinde erfolgreich niedergeknüppelt, aber es weiss noch nicht, wie es seine Kriege beenden soll», analysiert der «Economist». Die Rechtsextremen in der Regierung wollen Gaza und das Westjordanland annektieren, die Palästinenser vertreiben, und die arabischen Israelis womöglich gleich mit. Doch das führt nur zu neuem, unendlichem Hass.
Die Saudis sind in diesem Konflikt so etwas wie der ominöse Elefant im Raum. Sie versuchen, sich irgendwie zwischen den Fronten zu behaupten. Letztes Jahr kam es unter chinesischer Vermittlung zu einer viel beachteten «Normalisierung» mit dem Erzrivalen Iran. Gleichzeitig suchte das Königreich eine Annäherung an den «anderen» Feind Israel.
Beobachter glauben, die Hamas habe mit dem Terrorangriff vor einem Jahr diese für sie potenziell gefährliche Entwicklung torpedieren wollen. Tatsächlich hat Kronprinz Mohammed bin Saman zuletzt mehrfach eine Zweistaaten-Lösung als Bedingung für einen Ausgleich mit Israel gefordert. Eine solche ist für die meisten Israelis derzeit schlicht undenkbar.
Für jene, die an einen Frieden glauben, ist sie dennoch eine Option, um den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen. Auch wenn die Zeit dafür nicht reif scheint. «Wir sind euphorisch über die Eliminierung von Nasrallah und ignorieren, in welchen Schlamassel wir in Gaza geraten sind», sagte Zeev Raz, ein ehemaliger Luftwaffen-Oberst, dem «Economist».
Und das soll keine Kritik an Israel sein, sondern allein an dem Opportunisten Bibi Netanjahu und seiner Regierung.