Es war die wohl eindrücklichste Szene in der Taurus-Debatte diese Woche im Bundestag: Kanzler Olaf Scholz (SPD), sichtlich angefasst, geht CDU-Aussenpolitiker Norbert Röttgen persönlich an, nachdem dieser eine Frage zur Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gestellt hat.
Scholz sagt vor laufender Kamera zu Röttgen:
Nicht nur die Anwesenden und das Publikum des Livestreams im Netz fragten sich hinterher, was der Kanzler gemeint haben könnte. Seit über neun Monaten diskutiert das Land über die Abgabe deutscher Präzisionsflugkörper an die Ukraine. Der Kanzler schwieg lange zu dem Thema, bis er vor Kurzem erstmals öffentlich Gründe vorlegte, warum er sich entschieden habe, die Taurus nicht zu liefern.*
Im Kern geht es Scholz darum, die Kontrolle über die Zielführung des Marschflugkörpers zu behalten, der über 500 Kilometer weit fliegen kann, und damit – theoretisch – bis nach Moskau. Um die Kontrolle zu behalten, sei wiederum eine Beteiligung deutscher Soldaten nötig, weswegen eine Lieferung des Taurus ausgeschlossen sei. «Das ist eine Grenze, die ich als Kanzler nicht überschreiten will», bekräftigte Scholz am Mittwoch sein Nein.
Scholz handelte sich damit den Vorwurf ein, er würde der Ukraine nicht vertrauen. Röttgen bestritt zudem tags darauf in einem ARD-Interview, ein «Sonderwissen» zu haben und warf dem Kanzler vor, er nutze Angst «als Mittel und Instrument seiner Durchsetzung».
Doch der Verweis auf die Kontrolle durch Deutschland ist offenbar nur ein Teil der Wahrheit. Nach Informationen des watson-Medienpartners T-Online gibt es einen weiteren wichtigen Faktor, der beim Taurus-Nein des Kanzlers eine Rolle spielt.
Mit seinem Vorwurf an Röttgen, dieser besitze eine Art Geheimwissen, hat Scholz selbst angedeutet, worum es sich handeln könnte. Es geht um als geheim eingestufte Informationen, die ausgewählten Abgeordneten des Bundestags nun erstmals zugänglich gemacht wurden.
Entscheidendes passierte laut T-Online-Informationen in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses am Dienstag. Im ersten Teil befragten die Ausschussmitglieder zunächst den vorgeladenen Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius zur Abhöraffäre der Luftwaffe. In einem zweiten, geheimen Teil ging es um Taurus, in der erstmals sensible Details über den Marschflugkörper Taurus mit Abgeordneten eines Fachausschusses des Bundestags geteilt wurden.
Der ebenfalls geladene Generalinspekteur der Bundeswehr, Carsten Breuer, hielt demnach ein 20-minütiges Referat über die wichtigsten Fakten zum Taurus: Neben Einsatzfähigkeit und Stückzahl (die Luftwaffe verfügt nach Schätzungen über rund 600 Taurus) soll Breuer auch über besondere Risiken einer Lieferung für die Sicherheitsinteressen Deutschlands gesprochen haben.
Eine mit dem Vorgang vertraute Personen berichtet t-online, dass manchen Abgeordneten dabei «die Kinnladen heruntergeklappt» sei. «Nach Breuers Vortrag war erst mal Stille im Raum. Selbst diejenigen, die sonst laut Forderungen stellen, hatten keine Fragen mehr.» Ein Ausschussmitglied und Taurus-Befürworter sagte nach der Sitzung zu T-Online, dass er «zum ersten Mal Zweifel bekommen» habe und seine Position zu einer Lieferung überdenken wolle.
Auch im Interview, das der verteidigungspolitische Sprecher von CDU/CSU, Florian Hahn, im Anschluss der Sitzung der ARD gab, ist davon etwas zu spüren. Hahn, der den Kanzler in der Taurus-Frage gerne mit markigen Worten antreibt, spricht ruhig, differenziert, fast so, als müsste er seine Gedanken neu ordnen.
Was hatte Breuer gesagt?
Der Generalinspekteur informierte die Abgeordneten offenbar im Detail darüber, dass der Einsatz des Taurus komplizierter ist, als bisher von vielen angenommen wurde. Um den Marschflugkörper sinnvoll einzusetzen, seien demnach enorme Mengen an Daten notwendig.
Dass die Zielprogrammierung der Taurus-Waffen kompliziert ist, war bereits bekannt. Die «zentrale Missionsplanung» (ZMP), das technische und operative Verfahren der Zieleingabe und Routenführung, besteht aus zahlreichen unterschiedlichen Quelldaten wie Höhenmesspunkten, Vektordaten, Satellitenbildern und Rasterkarten, um dem Taurus eine möglichst präzise Flugroute zu ermöglichen. Das ZMP-System wurde von der deutschen Firma ESG entwickelt, die Ende 2023 in der Rüstungselektronikfirma Hensoldt aufging.
Es handle sich nicht um Giga- oder Terabyte, sondern um extreme hohe und komplexe Datenmengen, die offenbar von speziellen technischen Systemen aufbereitet werden müssen. Diese technischen Anlagen allerdings gebe es nur in begrenztem Masse, heisst es. Würden diese bei einer Taurus-Lieferung ebenfalls an die Ukraine transferiert, stünden sie der Bundeswehr nicht mehr zur Verfügung. Eine Fähigkeitslücke entstünde, die die «Einsatzfähigkeit der deutschen Streitkräfte» empfindlich beeinträchtigen würde, so eine mit der Angelegenheit vertraute Person.
Um welche Art von Anlagen es sich handeln soll, ist unklar. Weder der Taurus-Hersteller MBDA noch das Bundesverteidigungsministerium möchten sich auf Anfrage dazu äussern. Auch in welcher Stückzahl diese Anlagen vorhanden sind, wie lange es dauert, diese zu ersetzen, und warum sie so schwer nachzubeschaffen sind, ist fraglich. Es handle sich um eine «technische Engstelle», die für eine lange Zeit nicht ersetzt werden könne, so eine mit der Angelegenheit vertrauten Person. «Wenn wir diese Fähigkeit liefern, dann gibt es sie für uns nicht mehr.»
Die Situation sei nicht vergleichbar mit der Abgabe etwa der 18 Leopard-2-Panzer an die Ukraine, auf deren Ersatz das Heer bis 2026 warten muss. «Die Taurus gehören zu unseren wirkmächtigsten Waffen im Luft-Boden-Bereich, die nahezu an strategische Fähigkeiten heranreichen.»
Es gehe um «elementare Fragen der nationalen Sicherheit», heisst es, so eine mit der Angelegenheit vertrauten Person. Den Abgeordneten seien in Breuers Vortrag ein «Preisschild» für die Sicherheit der Bundesrepublik mitgegeben worden, das nun allen Beteiligten bewusst sein müsse.
Ein entscheidender Faktor dabei ist offenbar, wie der Taurus eingesetzt wird: in seiner «abgespeckten», datenärmeren Variante oder in seiner vorgesehenen Form mit allen Zusatzfeatures. Spielt der Taurus all seine Vorteile aus, kann er etwa in den Tiefflug auf bis zu 15 Metern Höhe heruntergehen, wo er feindliche Luftverteidigungsstellen besser um- oder unterfliegen kann.
Für diese präzise Navigation mittels vier verschiedener Systeme und die Modellierung der Route sowie des exakten Ziels (bis auf wenige Meter genau) brauche es jedoch besagte Anlagen, heisst es.
So könnte man den Taurus zwar ohne Zusatzfähigkeit an die Ukraine schicken inklusive einer kürzeren Ausbildungszeit für ukrainische Soldaten. Doch dann hätte der Taurus eher den Zweck, als Nachschub für die weniger leistungsfähigen britischen Marschflugkörper Storm Shadow zu dienen. Beide Varianten seien möglich, mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen.
Der Militärexperte Fabian Hoffmann unterscheidet zwischen einer «simplen» und einer «erweiterten Missionsplanung» bei Taurus. Für Letzteren müsse auch eine entsprechende technische Infrastruktur vorhanden sein, so Hoffmann. Dies mache eine Ausbildung ukrainischer Soldaten an dem System weiterhin möglich, verzögere diese aber.
Hinweise auf die komplexe Missionsplanung wie auch auf den unterschiedlichen Einsatz des Taurus lassen sich auch in dem geleakten Gespräch zwischen hochrangigen Offizieren der Luftwaffe finden. Ein Oberstleutnant spricht etwa von «Zieldaten, die idealerweise mit Satellitenbildern kommen», weil damit die höchste Präzision, nämlich unterhalb von drei Metern, erreicht werden könne. «Die [Zieldaten] müssen wir verarbeiten im ersten Set in Büchel», wo die Luftwaffe einen Fliegerhorst unterhält.
An anderer Stelle erklärt der Offizier, dass sich die Berechnungszeit der Modellierung auf zwölf Stunden verdoppelt, wenn man die präziseren Satellitendaten einspeist, und dass dies eine Datenleitung erfordert, «die das leisten kann».
Die Informationen, die den Abgeordneten in der Ausschusssitzung am Dienstag gegeben wurden, hatten auf die darauffolgende Bundestagsdebatte und die Abstimmung über den Unions-Antrag wenig sichtbare Auswirkung.
Sie können dennoch die Kalkulation des Kanzlers besser erleuchten, warum er auf seinem Veto besteht. Etwa wenn es um ein Worst-Case-Szenario geht: Gibt Scholz einen Teil der Taurus samt technischer Anlagen an die Ukraine ab und verliert diese den Krieg, könnte Russland in der Westukraine an der NATO-Grenze stehen, während Deutschland eine militärische Kernfähigkeit abgegeben hat. Eine «lose-lose»-Situation.
Deutschland stünde in der Folge militärisch noch schwächer da als zuvor. Verantwortlich dafür wäre der Kanzler. Da die Taurus-Systeme, wie mittlerweile von allen Seiten betont wird, keine Gamechanger sind, sondern lediglich taktische Vorteile brächten, könnte Scholz sich denken: Warum eine Waffe liefern, die für die Ukraine nicht kriegsentscheidend ist, aber für Deutschland eine massive Beeinträchtigung ihrer Abschreckungsfähigkeit bedeutet?
Letztlich bleibt es eine politische Frage. Die Hürden einer Lieferung liessen sich beseitigen. Deutschland könnte den Taurus auch in der «Premiumvariante» an die Ukraine schicken und das Risiko für die eigene Sicherheit in Kauf nehmen. CDU/CSU, Grüne und FDP, die ebenfalls in besagter Ausschusssitzung sassen, sind offenbar bereit, dieses Risiko in Kauf zu nehmen.
Folgt man der Argumentation der stärksten Taurus-Befürworter, ergibt das auch Sinn: Wenn die These lautet, dass die Ukraine auch Deutschlands Sicherheit vor den Russen verteidigt, kann die Abgabe einer militärischen Kernfähigkeit vertretbar sein.
Der Kanzler hat diese Abwägung anders getroffen. Scholz tut das, wie er stets betont, mit dem Hinweis darauf, dass er als Kanzler den Amtseid abgelegt hat, um die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten. Dass er das aus bloss innenpolitischen Motiven tut, wie ihm viele seiner Kritiker vorwerfen, erscheint vor dem Hintergrund der nun aufgetauchten Informationen als zweifelhaft.
* In einer früheren Version des Textes stand irrtümlich: «..., warum er sich entschieden habe, die Taurus zu liefern.»
Taurus wäre für die Ukraine kein Gamechanger, sondern brächte lediglich taktische Vorteile, aber für Deutschland ergäbe die Weitergabe dieses Systems ein signifikanter Verlust an Verteidigungsfähigkeit?
Wie marode ist denn die Bundeswehr?
Sicher ist es wichtig verschiedene Dinge geheim zu halten, man hätte es aber erklären können, ohne etwas zu verraten, jetzt ist es aber auch bekannt.
Mit diesem Wissen ist die Entscheidung eine Gratwanderung.
https://www.researchgate.net/publication/313498043_Zentrale_Missionsplanung_fur_die_modulare_Abstandswaffe_TAURUS_KEPD_350
Die notwendige hardware ist Stand 2003, nichts besonderes.
Themen wie Geländeprofil und Gebäudekontur waren damals herausfordernd, Heute bietet das Googlemaps bereits.
Die Technologie ist bekannt und Standard (Armee ist bei IT nie Topnotch, sondern robust)
Das ist problemlos emulierbar und zB Südkorea kann das auch abbilden.
Es ist wiedermal nur eine weitere Ausrede!