«Historisch» und «epochal»: Das waren am Tag nach den Parlamentswahlen die am meisten verwendeten Adjektive der politischen Kommentatoren in Rom.
In der Tat wäre es vor wenigen Jahren noch völlig undenkbar gewesen, dass in Italien, das die Schrecken einer faschistischen Diktatur Benito Mussolinis selber erlebt hatte, eine Partei zur stärksten politischen Kraft gewählt werden könnte, die ihre ideologischen Wurzeln in ebendieser Diktatur hat. Insofern ist das Wahlresultat tatsächlich eine spektakuläre Zäsur für die italienische Demokratie.
Die ersten Wahlanalysen zeigen allerdings: Obwohl Melonis «Brüder Italiens» ihren Stimmenanteil gegenüber den Wahlen von 2018 versechsfachen konnte (von 4.3 auf 26.1 Prozent) ist das rechtsnationale und populistische Lager kaum stärker geworden: Der grösste Teil des Stimmenzuwachses von Meloni erfolgte auf Kosten der Lega von Matteo Salvini; das Wasser abgegraben haben die «Brüder» aber auch dem Erz-Populisten Silvio Berlusconi und der Fünf-Sterne-Protestbewegung, die bei den letzten Wahlen mit 32 Prozent stärkste politische Kraft geworden war und damals zahlreiche Stimmen von rechts auf sich vereinigte.
Diese Wechselwähler von der Lega, von Berlusconis Forza Italia und der Fünf Sterne haben Meloni nicht wegen, sondern trotz ihrer postfaschistischen Partei gewählt. Für die meisten Rechtswähler in Italien ist der Faschismus ein abgeschlossenes und verdrängtes Kapitel der Geschichte, ein reines Schreckgespenst der Linken, die keine besseren Argumente mehr habe.
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— Repubblica (@repubblica) September 26, 2022
Sie wählten Meloni, weil sie frisch, unverbraucht und für viele auch ernsthaft wirkt: eine Hoffnungsträgerin für all jene Italienerinnen und Italiener, die sich abgehängt und von der Politik vergessen fühlen.
So gesehen war die Wahl vom Sonntag erneut eine Protestwahl wie jene von 2018, als die Fünf Sterne und die Lega eine Regierungsmehrheit errangen. Allerdings: Das Parlament ist am Sonntag sehr weit rechts gerückt – vermutlich weiter, als es die Absicht vieler Protestwähler war, die Meloni ihre Stimme gegeben haben.
Im Mitte-rechts-Lager Italiens ist die Mitte verschwunden, und Berlusconis Forza Italia und Matteo Salvinis Lega sind mit je etwas mehr als acht Prozent zu blossen Statisten degradiert worden. Die innen- und aussenpolitische Agenda Italiens wird nun die ultrarechte Nationalistin und gesellschaftspolitische Reaktionärin Meloni diktieren.
Die 45-jährige Römerin Giorgia Meloni – Mutter einer sechsjährigen Tochter und liiert, aber nicht verheiratet mit dem Vater des Kindes, einem eher links stehenden TV-Journalisten – hat im Wahlkampf versucht, sich ein moderates Mäntelchen umzuhängen.
Das gelang ihr meist recht gut – etwa dann, wenn sie ihre Bündnispartner Salvini und Berlusconi (erfolglos) ermahnte, keine unrealistischen Wahlversprechungen zu machen, oder wenn sie sich bezüglich der Hilfe an die Ukraine und der Sanktionen gegen Russland vorbehaltlos hinter Regierungschef Draghi und die Nato stellte.
Weniger gelungen ist ihr die Maskerade bei einem Auftritt bei der rechtsextremen spanischen Partei Vox im Juni, als sie mit geschwollenen Halsschlagadern herumschrie und Parolen gegen die «LGBT-Ideologie» und den «Todeskult der Linken» bei der Abtreibung skandierte.
Discurso neofascista, populista, falaz de Meloni con Vox en Andalucía. La demagógica receta "basura" de ultraderecha implica menos libertad, menos igualdad, menos bienestar. Pero no llega "que viene el lobo", mostremos que la izquierda defiende a la gente y permite una vida mejor pic.twitter.com/ZgdLvR6fhn
— Gonzalo Caballero (@G_Caballero_M) June 16, 2022
Eine eher schauerliche Szene – wie faschistisch also ist Meloni? Die Frau trat bereits im Alter von 15 der «Jugendfront» des postfaschistischen Movimento Sociale Italiano bei. Meloni steht zu der reaktionären Ideologie ihrer Partei. Ihr Motto ist und bleibt «Dio, Famiglia, Patria» (Gott, Familie, Vaterland) - es war schon der Leitspruch der Mussolini-Diktatur gewesen.
Meloni ist offen nationalistisch, will Italien gegen Migranten abschotten, hat ein Faible für Autokraten wie Viktor Orbán und Donald Trump (aber nicht für Putin) und steht für eine erzkonservative Familien- und Genderpolitik.
Eine erste Frau an der Spitze der italienischen Regierung ist nun sehr wahrscheinlich. Auch stand in dieser Position seit Mussolini noch nie jemand mit Wurzeln im Faschismus. Meloni steht politisch sehr weit rechts - aber als verbohrte Extremistin und Faschistin kann man sie dennoch kaum bezeichnen.
Das betrifft auch ihr Verständnis der EU: Sie ist klug genug, um zu wissen, dass Italien ohne den Goodwill der EU nicht auskommen kann. Und so hat sie noch am Wahlabend den geschäftsführenden Premier Draghi gebeten, ihr im Hinblick auf die Ausarbeitung des Staatshaushalts im November unter die Arme zu greifen.
Ob dies ein Bekenntnis zu einer seriösen Finanzpolitik oder nur ein weiterer Beschwichtigungsversuch war: Letztlich kann das niemand sagen. Die Verwandlungskünstlerin ist undurchschaubar geworden. (aargauerzeitung.ch)