Herr Mattioli, Sie sind Italiener?
Aram Mattioli: Ich habe italienische Wurzeln, meine Grossmutter lebte bis 1935 in Italien und erlebte als junge Frau den Aufstieg des Faschismus. Sie erzählte mir von den Strafexpeditionen, von den Menschen, die angegriffen und zusammengeschlagen wurden. Aus dieser Familiengeschichte heraus fühlte ich mich dem Land schon immer sehr verbunden und interessiere mich für die dortigen politischen Prozesse.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie daran denken, dass am Sonntag eine Postfaschistin hervorragende Chancen hat, Italiens Ministerpräsidentin zu werden?
Es beunruhigt mich. Ich gehe davon aus, dass es am Sonntag einen heftigen Rechtsrutsch in Italien geben wird. Und dass daraus die am weitesten rechts stehende Regierung seit 1945 hervorgehen wird. Ausgerechnet in jenem Herbst, in dem die Machtübernahme des Faschisten Benito Mussolini 100 Jahre her ist. Was mich aber am meisten beunruhigt, ist, dass fast die Hälfte der Italienerinnen und Italiener diese Entwicklung nicht besonders beunruhigend finden.
Dazu kommen wir noch. Zuerst die Frage: Darf man Giorgia Meloni überhaupt als «Postfaschistin» bezeichnen?
Unbedingt. Sie begann ihre Karriere im neofaschistischen Movimento Sociale Italiano, war Mitglied der Alleanza Nazionale und das postfaschistische Gedankengut spielt bei ihr und bei ihrer Anhängerschaft nach wie vor eine Rolle.
Inwiefern sind Meloni und ihre Partei, die Fratelli d’Italia, postfaschistisch?
Ihre Wahlplakate enthalten die «Fiamma tricolore». Dasselbe Logo, das auch der Movimento Sociale Italiano trug, die erste neofaschistische Partei nach dem Krieg. Meloni verortet sich durchaus in deren Tradition. Sie hat den Bruch mit dem Faschismus und Neofaschismus nie in der gewünschten Deutlichkeit vollzogen. Nicht zuletzt aus dem Kalkül heraus, dass man so in Italien immer noch viele Wähler gewinnen kann.
Bei den letzten nationalen Wahlen kamen die Fratelli d'Italia auf 4 Prozent Wähleranteil. Wie kann es sein, dass Meloni ihren Wähleranteil innerhalb von vier Jahren auf geschätzt 25 Prozent versechsfachen konnte?
Diese Steigerung ist tatsächlich gewaltig. Es zeigt, wo in Italien die Probleme liegen. Die Wählerschaft probiert immer wieder eine neue Alternative aus. Es gibt diese Mentalität, sich sehr schnell in eine neue Kraft zu verlieben und diese auch zu wählen. Erfüllt sie die Erwartungen nicht, wird sie genauso schnell wieder fallen gelassen.
Wovon haben Meloni und die Fratelli d'Italia profitiert?
Dass sie nicht in die nationale Einheitsregierung von Mario Draghi eingetreten sind. Sie war die einzige Oppositionskraft. Das macht sie heute in den Augen von vielen Italienerinnen und Italienern besonders glaubwürdig. Sie vermittelt den Eindruck, authentisch geblieben zu sein. Sie verspricht dem gebeutelten Italien neue Lösungen.
In Deutschland wäre so etwas undenkbar! Man stelle sich vor, die NPD zieht mit einer Mehrheit in den Bundestag ein und deren Parteivorsitzender würde Kanzler. Was ist der Unterschied zu Italien?
Die politischen Kulturen sind sehr unterschiedlich geprägt. Deutschland hat seit den späten 60er-Jahren die Zeit des Nationalsozialismus intensiv aufgearbeitet. Es wurde ein Bewusstsein dafür geschaffen, was der Nationalsozialismus bedeutet hat. In Italien lief das ganz anders ab.
Benito Mussolini wurde 1945 erschossen und sein Leichnam unter Jubel kopfüber am Dach einer Tankstelle aufgehängt. Was geschah danach?
Es gab eine Parteienkoalition mit Antifaschisten unterschiedlichster Herkunft. Sie übernahm die Geschicke des Staates, der sich ab 1946 als Republik definierte.
Die grosse antifaschistische Wende wurde eingeläutet.
Ja, es herrschte ein antifaschistischer Grundkonsens und der Verfassungsbogen bestand aus Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, bis zu Republikanern, Christdemokraten und Liberalen. Die einzige Partei, die nicht dazugehörte, war der Movimento Sociale Italiano. Diese neofaschistische Partei hatte während der Nachkriegszeit nur einen vergleichsweise kleinen Wähleranteil, war in Daueropposition und spielte keine grössere Bedeutung in der italienischen Politik.
Machte man sich damals daran, die Geschichte aufzuarbeiten?
In einer ersten Phase gab es wilde und blutige Abrechnungen mit Volksgerichten. Aber die Aufarbeitung wurde aus verschiedenen Gründen früh abgebrochen.
Warum?
Was man häufig vergisst, ist, dass Italien in der letzten Phase des Krieges auch einen Bürgerkrieg ausgefochten hatte. Zwischen Antifaschisten und Anhängern des faschistischen Regimes. Das Land war zutiefst gespalten. Danach versuchte man, eine Demokratie zu implementieren. Wobei die Erinnerung an diese Spaltung störte. Um des inneren Friedens willen stoppte man die Aufarbeitung, insbesondere die justizielle. Im Juni 1946 wurde eine Generalamnestie ausgesprochen. Kriegsverbrechertribunale, wie jenes in Nürnberg, gab es in Italien nie. Das war für den Verlauf der Geschichte entscheidend. So konnte sich kein historisches Unrechtsbewusstsein bilden.
Wie kam es, dass Italien vom antifaschistischen Grundkonsens in den 40er- bis 80er-Jahren zu einem Land ohne Gedächtnis wurde?
Im Grunde passierte das in zwei Etappen. Zuerst gab es einen revisionistischen Erinnerungsdiskurs und dann eine rechte Erinnerungspolitik seit Silvio Berlusconis erster Regierung 1994.
Das müssen Sie etwas genauer ausführen.
Wie schon gesagt: Nach dem Zweiten Weltkrieg definierte sich die Italienische Republik als antifaschistisch, mit einer antifaschistisch geprägten Verfassung. Während des frühen Kalten Krieges verschärfte sich die Blockkonfrontation zwischen Ost und West. Italien galt als angrenzender Frontstaat mit einer starken Linken. Der Westen wollte Italien nicht ans andere Lager verlieren. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und den Reformen von Gorbatschow gab es dann immer lautere Kritik am Antifaschismus. In den 80er- und 90er-Jahren geriet das traditionelle Parteiensystem immer mehr unter Druck, versank in Korruption und ging dann 1993 und 1994 völlig unter.
Und dann kam Berlusconi.
Das war seine historische Stunde. Diejenigen, die während der antifaschistischen Phase ausgegrenzt worden waren, erhielten jetzt durch ihn Gehör und Gewicht. Befördert dadurch, dass Berlusconi diese Leute 1994 in seine Regierung holte. Damit machte er den Movimento Sociale Nazionale, der sich später in Alleanza Nazionale umformte, salonfähig. Das ermöglichte den Neofaschisten, mit ihren Geschichtsbildern stärker in die Öffentlichkeit zu treten.
Der revisionistische Erinnerungsdiskurs, von dem Sie sprachen?
Genau. Man begann, die Taten des faschistischen Regimes kleinzureden. Es sei alles gar nicht so schlimm gewesen, Mussolini im Grunde ein gutmütiger Diktator, der an der Spitze eines wenig blutigen Regimes gestanden habe. Berlusconi sagte in den Nullerjahren während seiner Zeit als Ministerpräsident, in Mussolinis Regime sei nie jemand umgebracht worden. Er enttabuisierte das faschistische Regime. Auch, indem er mehrfach nicht an der Festa della Liberazione, dem Fest der Befreiung, teilnahm, zeigte er seine Verachtung für die antifaschistische Kultur. Er kultivierte skrupellos eine rechte Erinnerungspolitik und öffnete eine Schleuse für das neofaschistische Erinnerungsnarrativ.
Noch immer verehren heute viele den Diktator. Wie präsent ist Mussolini in den Köpfen der Italiener? Wie sichtbar in den Städten?
Predappio, eine Stadt in der Region Emilia-Romagna, wo Mussolini geboren wurde, ist heute ein Pilgerort für Faschisten und extreme Rechte. Aber auch sonst sind die Spuren des Faschismus und dessen architektonisches Erbe praktisch in jeder Stadt sichtbar. Mussolini ist für die Italiener wie eine Obsession. Obwohl er seit 1945 tot ist, hat man das Gefühl, er war nie richtig weg. Er ist bei vielen noch immer populär und seine Taten werden massiv beschönigt. Nur wenige haben auf dem Schirm, dass er einer der grössten Massenmörder der europäischen Geschichte war. Und dass sein Regime für etwa eine Million Tote verantwortlich war.
Was wissen heute die jungen Menschen über Mussolini?
Der Umbau der Erinnerungskultur in Italien ist weit fortgeschritten. Die Gräueltaten der Faschisten werden viel zu wenig thematisiert. An den Schulen wird das nur am Rand besprochen. Ich würde behaupten, dass gerade die junge Generation diesbezüglich ein enormes historisches Defizit aufweist. Das führt dazu, dass das faschistische Regime viel besser wegkommt, als es war, und dessen Verbrechen und Brutalität unterschätzt werden.
Eine Enkelin von Mussolini sitzt auch heute noch mit einer fantastischen Wählerquote im Römer Stadtrat. Wie ist es heute, mit dem Namen Mussolini in der italienischen Politik zu sein?
Der Name Mussolini ist kein Hindernis, um in Italien politische Karriere zu machen. Für gewisse Kreise wird das sogar als attraktiv wahrgenommen.
Rachele Mussolini und Giorgia Meloni gehören landesweit zu den beliebtesten Politikerinnen. Was macht sie so attraktiv?
Ich glaube, das Erfolgsgeheimnis von Meloni ist, dass sie eine unglaublich gute Rednerin ist. Sie kann Massen in ihren Bann ziehen. Sie gilt als authentisch, unverbraucht, neu. Und: Sie ist eine junge Frau. Dass ausgerechnet die radikalen Rechten zum ersten Mal in der italienischen Geschichte eine Frau zur Regierungschefin krönen, ist doch sehr bemerkenswert.
Sollte Giorgia Meloni Ministerpräsidentin werden: Was würde das für Italien bedeuten? Was für Europa?
Das wird nicht einfach nur ein Regierungswechsel werden. Meloni wird versuchen, das ganze Land umzukrempeln. Bereits angekündigt ist, dass ein Präsidialsystem eingeführt werden soll. Und mit «Italia prima» soll ein harter nationalistischer Kurs gefahren werden. Die Migrationspolitik will man verschärfen. Die Innen- und Gesellschaftspolitik wird stark konservativ geprägt. Das Verhältnis zu Europa wird sich verschlechtern.
Ein düsteres Szenario.
Und leider werden ihre Koalitionspartner sie nicht bremsen. Insbesondere Matteo Salvini von der Lega tritt in vielen Bereichen für noch härtere Positionen ein. Was mich wundert und gleichzeitig auch ärgert, ist, wenn italienische Kommentatoren im Fernsehen von der «centro-destra» sprechen. Was am Sonntag mit grosser Wahrscheinlichkeit gewählt wird, ist keine Mitte-rechts-Regierung. Italien wird eine Rechtsregierung bekommen.
(*) Das Interview mit Aram Mattioli wurde vor den Wahlen geführt und publiziert. Aus aktuellem Anlass präsentieren wir es erneut.
Es wird auch keine rechte, sondern eine rechtsextreme Regierung sein, wie Prof. Mattioli ja eigentlich im ganzen Interview zum Ausdruck bringt.
Das politische Pendel schlägt da innert kurzer Zeit von einem Extrem ins andere.
Kaum zu glauben, dass die Bevölkerung es immer wieder schafft, seine Ansichten in so kurzer Zeit ins Gegenteil umzukehren.