Inzwischen gibt es keine Zweifel mehr: Der russische Oppositionspolitiker Alexej Nawalny wurde vergiftet, und zwar mit einer Substanz der Nowitschok-Gruppe. Dabei handelt es sich um ein Nervengift aus der Sowjetzeit, über das nur der russische Geheimdienst verfügt. 2018 wurde in Grossbritannien der ehemalige Spion Sergei Skripal beinahe damit getötet.
In den demokratischen Staaten des Westens hat der Giftanschlag auf Nawalny heftige Reaktionen ausgelöst. Angela Merkel gab sich für einmal keine Mühe, sich diplomatisch auszudrücken. Sie sprach von einem «Verbrechen gegen alles, wofür wir stehen».
Dieses Verbrechen, so die deutsche Kanzlerin weiter, werfe schwerwiegende Fragen auf, welche «einzig die russische Regierung beantworten» könne und müsse. Schliesslich erklärte Merkel gar, die EU und die Nato müssten gemeinsame Aktionen ins Auge fassen.
Andere Staatsoberhäupter der westlichen Allianz äusserten sich ähnlich. Selbst der britische Premierminister Boris Johnson stimmte in den Chor ein. Der ganze Westen gegen Wladimir Putin also? Nein, es gibt eine Ausnahme, und es ist nicht ein kleines gallisches Dorf, sondern die Supermacht USA.
Aus dem Weissen Haus war bisher kein kritisches Wort im Fall Nawalny zu hören. Auch nicht zu den Demonstrationen in Belarus. Ebenfalls nicht zu den Berichten der amerikanischen Geheimdienste, wonach Putin den Taliban ein Kopfgeld für tote US-Soldaten in Afghanistan versprochen hat.
Stattdessen wollte Trump Putin zum mittlerweile abgesagten Treffen der G7 einladen. Ebenso hat er seinen Geheimdiensten untersagt, zu vermelden, dass der russische Geheimdienst erneut versucht, die Wahlen zu manipulieren und falsche Berichte über den angeblich schlechten Gesundheitszustand von Joe Biden verbreitet.
Über das seltsame Verhältnis von Donald Trump zu Wladimir Putin kursieren die verschiedensten Deutungen. Der US-Präsident sei von der Macho-Persönlichkeit seines russischen Gegenübers fasziniert, lautet die psychologische Variante. Andere betonen wirtschaftliche Gründe. Die Trump-Gruppe habe über ihre Immobilien im grossen Stil russisches Geld gewaschen. Freunde der sexuellen Perversion deuten daraufhin, dass die Pipi-Tapes-Frage immer noch nicht endgültig gelöst sei.
Wem dies alles zu verschwörerisch klingt, der kann sich an die Aussenpolitik halten. Auf diesem Gebiet haben Putins Russland und Trumps Amerika tatsächlich gemeinsame Interessen.
Trump hat mit der amerikanischen Aussenpolitik der Nachkriegszeit gebrochen. Die USA sollen nicht mehr Anführerin einer breiten westlich-liberalen Koalition sein, sondern alleinige Supermacht, welche mit anderen Nationen bilaterale Verträge abschliesst.
Der renommierte Experte für Geopolitik, Richard Haass, fasst in der jüngsten Ausgabe von «Foreign Affairs» Trumps Denkweise wie folgt zusammen:
Folgerichtig hat sich die Trump-Regierung seit Beginn ihrer Amtszeit daran gemacht, die westlich-liberale Weltordnung systematisch zu zerstören: Die angedachten Handelsabkommen mit Asien und Europa (TPP und TTIP) wurden fallengelassen. Das Pariser-Abkommen und die Atomverträge mit dem Iran gekündigt, ebenso der Vertrag über Mittelstreckenraketen mit Russland.
Die USA sind aus der Weltgesundheitsorganisation, der Unesco und dem Menschenrechtsrat ausgetreten. Selbst die heiligsten Kühe sind in Gefahr, geschlachtet zu werden: Trump droht immer wieder mit einem Ende der Nato und steht der EU feindlich gegenüber.
In den Augen des US-Präsidenten ist diese Politik realistisch und den neuen Umständen des 21. Jahrhunderts angepasst. Ebenfalls in «Foreign Affairs» rechtfertigt sie Trumps ehemalige Beraterin Nadia Schadlow wie folgt:
Diese Position spielt Russland perfekt in die Karten. In Moskau vertreten einflussreiche Vordenker wie Alexander Dugin eine obskure These von Landmacht gegen Seemacht. Kurz zusammengefasst besagt sie Folgendes:
Die Weltmacht der Angelsachsen beruht auf ihrer Überlegenheit auf den Weltmeeren. Solange es zu Lande keine vernünftigen Verkehrswege gab, waren die Briten und Amerikaner nicht zu besiegen. Die Eisenbahn und das Auto änderten dies. Nun haben die Landmächte ihre Chance, den Seemächten auf Augenhöhe entgegen zu treten, vor allem Russland, das grösste Land der Welt.
Dazu braucht Russland jedoch Verbündete. Deutschland wäre der ideale Partner, die Kombination von russischen Rohstoffen und deutscher Ingenieurskunst wäre ein Gegengewicht zu den Angelsachsen. Wie Trump hat Putin daher ein grosses Interesse daran, die EU und die Nato zu schwächen.
Nicht nur ihr offensichtlich autoritärer Charakter und ihr Wunsch nach einer «gelenkten Demokratie» verbinden den amerikanischen und den russischen Präsidenten. Aus verschiedenen Motiven wollen beide die westlich-liberale Weltordnung zerstören.
Sollte es ihnen gelingen, hat die Menschheit Grund, Angst zu haben, sehr viel Angst sogar. Ben Rhodes, ein Sicherheitsberater in der Obama-Regierung, hält ebenfalls in «Foreign Affairs» fest:
Geld gewaschen? Sehr gut möglich, aber hätte das wirklich so viel Einfluss.
Putin hat ihn an den Pipi-Eiern? Klingt plausibel.