Der russische Kreml-Kritiker Alexej Nawalny ist seit zwei Wochen im Koma. Er wurde zunächst im sibirischen Omsk behandelt, bevor er auf Drängen seiner Familie ins Berliner Universitätsspital Charité versetzt wurde.
Gestern Mittwoch gab nun die deutsche Bundesregierung bekannt, dass bei Nawalny «der zweifelsfreie Nachweis» eines chemischen Nervenkampfstoffes aus der Nowitschok-Gruppe erbracht wurde.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach am Mittwoch von einem «versuchten Giftmord» an einem der führenden Oppositionellen Russlands: «Er sollte zum Schweigen gebracht werden.» Gemeinsam mit den Partnern in der Nato und EU werde man nun beraten und über eine gemeinsame Reaktion entscheiden.
Aber was sind Nowitschok-Nervengifte überhaupt und wie wirken sie? Wir haben die wichtigsten Fragen dazu zusammengetragen.
Nowitschok bedeutet auf Russisch so viel wie Anfänger oder Neuling. Der Begriff steht für eine Gruppe stark wirksamer Nervengifte und -kampfstoffe. Es existieren hunderte chemische Varianten davon – alle sind um ein Vielfaches toxischer als zum Beispiel Sarin.
Das Nervengift kann entweder als Gas, Flüssigkeit oder feines Pulver eingesetzt werden. Das letzte Mal, als ausführlich über Nowitschok berichtet wurde, war im Jahr 2018, als in Grossbritannien der russische Ex-Agent Sergej Skripal und dessen Tochter damit vergiftet wurden.
Die Nowitschok-Nervengifte blockieren die Produktion des Enzyms Cholinesterase. Dieses Enzym wird im Stoffwechsel benötigt, um den Abbau des Neurotransmitters Acetylcholin voranzutreiben. Wird dieser Botenstoff nicht mehr abgebaut, wird das Nervensystem ungehemmt mit Reizen bombardiert, die Signalwege werden völlig überlastet und spielen verrückt.
Körpergewebe, Muskeln und Organe werden mit Nerveninformationen überschüttet. Es kommt zu einem verstärkten Speichelfluss und zu Atemproblemen, weil der Vergiftete seine Atemmuskulatur nicht mehr kontrollieren kann. Die Hemmung der Atmung und Lähmung des Herzmuskels können zum Tod führen, wenn die Vergiftung nicht behandelt wird. Zu den typischen Symptomen werden auch Erbrechen und Schaum vor dem Mund gezählt.
Nowitschok zählt zu den stärksten Nervengiften überhaupt, die mittlere letale Dosis bei Hautkontakt liegt etwa bei einem bis zehn Milligramm, je nachdem welche Nowitschok-Verbindung vorliegt. Zum Vergleich: Bei Sarin sind dafür über 1000 Milligramm nötig.
Zuerst muss sichergestellt werden, dass der Patient durch die Muskelverkrampfungen der Atemwege nicht erstickt. Deswegen wurde Nawalny sofort künstlich beatmet.
Die eigentliche Vergiftung kann man relativ gut mit Gegengiften wie Atropin behandeln, sofern sie schnell genug entdeckt wurde, sagt etwa Toxikologe Martin Göttlicher, Leiter des Instituts für Toxikologie des Helmholtz Zentrums in München gegenüber «T-Online».
Die Sorge bestehe aber, dass langfristige Schäden wie beispielsweise eine Muskelschwäche oder eine Gedächtnisstörung bleiben. Im Fall Nawalny ist der Ausgang noch offen, er befindet sich momentan im Koma. Eine vollständige Erholung kann aber dauern, Göttlicher spricht von etwa einem halben bis ganzen Jahr.
Sowjetische Chemiker tüftelten seit Anfang der 70er Jahre an den Nowitschok-Verbindungen. Ziel war es, eine neue Generation von Kampfstoffen zu entwickeln, die nur schwer nachweisbar sein sollten. Resultat der Forschung ist eine ganze Reihe an Nervengiften, die unter dem Namen Nowitschok zusammengefasst werden. Allerdings waren viele dieser Gifte für den tatsächlichen Einsatz ungeeignet, unter anderem weil sie zu instabil waren.
Gemeinsam haben alle, dass sie die Acetylcholinesterase hemmen und auf organischen Phosphorverbindungen basieren. Letzteres, weil die Produktion der Nervengifte so als ziviles Forschungsprogramm getarnt werden konnte und damit nicht von ausländischen Geheimdiensten oder forensischen Experten nachgewiesen werden konnte.
Die Existenz der Nervengifte wurde erst im Oktober 1991 durch die Enthüllungen des russischen Chemikers Wil Mirsajanow der Öffentlichkeit bekannt.
Nein, so einfach geht es nicht. Man braucht für die Herstellung ein gut ausgerüstetes chemisches Labor und fundiertes chemisches Wissen – ein Hochsicherheitslabor werde aber nicht benötigt, sagt Toxikologe Göttlicher. Vor allem aber brauche man jemanden, der bereit ist, viel Energie in die Herstellung zu investieren. Und weiter: «Das muss nicht unbedingt ein Staat sein. Aber es braucht eine gewisse Logistik dafür – und dass das langfristig unentdeckt bliebe, wäre wirklich schwer.»
Ralf Trapp, ehemaliger Berater bei der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW), sieht es ähnlich: In einem Interview mit «Vice» sagt er, dass man zwar relativ einfach an die Grundstoffe kommt – vorausgesetzt, man hat Zugriff auf eine Chemieindustrie –, die grösste Schwierigkeit bestehe hingegen bei der richtigen Zusammensetzung des Giftstoffs. Man müsse sich gut auskennen und lange forschen, bevor es klappe. Er bilanziert: «Ich glaube, dass nicht allzu viele Labore so etwas können.»
Ob es der gleiche Stoff war, mit dem Skripal im Jahr 2018 vergiftet wurde, kann man noch nicht sagen. Göttlicher dazu: «Der Nachweis dürfte aber schwer sein. Nowitschoks sind eine Klasse von Substanzen. Die Analytiker haben sich darauf festgelegt, dass der Stoff in diese Klasse gehört. Ob das ganz genau derselbe Stoff ist, wissen wir derzeit noch nicht.»
Traurig, wie wenig heute ein Menschenleben noch wert ist!