Ein Jahr lang hat die Volksrepublik China sich im Ukraine-Krieg offiziell neutral verhalten, faktisch aber die Position Russlands vertreten. Nun will sie am Freitag, dem Jahrestag der russischen Invasion, überraschend einen Friedensplan vorlegen. Dies kündigte Chinas oberster Aussenpolitiker Wang Yi am Samstag an der Münchner Sicherheitskonferenz an.
Wang war bis Ende letzten Jahres Aussenminister und ist seither im Politbüro, dem höchsten Machtorgan der Kommunistischen Partei, für die Aussenbeziehungen zuständig. Qin Gang, sein Nachfolger als Aussenminister, erklärte am Dienstag in Peking, China sei «sehr besorgt, dass der Konflikt eskaliert und sogar ausser Kontrolle geraten könnte».
Die Wortwahl ist bezeichnend: Das offizielle China spricht nie von Krieg, sondern von Krise, Konflikt oder der «Ukraine-Frage». Auch Wang Yi hielt sich in München an dieses Framing, weshalb die angekündigte Friedensinitiative an der Sicherheitskonferenz im Grundsatz begrüsst, aber auch mit viel Zurückhaltung und Skepsis aufgenommen wurde.
«China war nicht fähig, den Einmarsch zu verurteilen. China konnte nicht sagen, dass es sich um einen rechtswidrigen Krieg handelt», erklärte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Der deutsche Grünen-Politiker und China-Kenner Reinhard Bütikofer bezeichnete die Initiative als Spiel mit der Gutgläubigkeit der Menschen, die sich nach Frieden sehnen.
Es gibt genügend Gründe, an Chinas Ernsthaftigkeit zu zweifeln. Staatschef Xi Jinping hatte Wladimir Putin vor der Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Peking vermutlich das Plazet für die Invasion erteilt. Mit dem für Russland unvorteilhaften Kriegsverlauf schien er auf Distanz zu gehen, ohne den Bruch mit Putin zu vollziehen.
Kann ein chinesischer Friedensplan unter diesen Umständen funktionieren? Einiges spricht dagegen. Aber es gibt auch Hinweise, dass China an einem Waffenstillstand interessiert ist.
Der robuste Widerstand der Ukraine habe in Peking zu einem Umdenken und zur Bereitschaft für eine Waffenruhe geführt, um weitere russische Rückschläge oder gar eine schwere Niederlage zu verhindern, schreibt die China-Korrespondentin des «Wall Street Journal» unter Berufung auf Personen aus dem Umfeld des Pekinger Machtzentrums.
Ein geschwächtes Russland müsste sich China zwar faktisch unterordnen und in aus Pekings Perspektive günstige Deals etwa im Bereich Energie einwilligen. Dennoch habe Xi Jinping wenig Interesse daran, dass Moskau und Wladimir Putin schwer angeschlagen aus dem Krieg hervorgingen, sagten die erwähnten Personen dem «Wall Street Journal».
Das ist nachvollziehbar. Für China mag es auf den ersten Blick verlockend sein, Russland zum Juniorpartner zu degradieren. Doch Xi Jinping möchte mit Wladimir Putin eine Allianz gegen den Westen und vor allem die USA schmieden, um die von den beiden revanchistischen Machthabern angestrebte «multipolare» Weltordnung voranzutreiben.
Ein durch Krieg und Sanktionen geschwächtes Russland ist kaum in Xis Interesse. Als Ausgleich könnte Peking Waffen liefern. Die USA haben am Wochenende eindringlich vor einem solchen Szenario gewarnt. Dagegen spricht, dass chinesische Waffen für Russland genau jene Eskalation herbeiführen dürften, von der Aussenminister Qin Gang sprach.
Ein Waffenstillstand ist die naheliegendere Lösung. Dabei könnte China auch die Europäer im Visier haben. Während das Verhältnis zu den USA zuletzt wieder frostiger wurde, auch wegen der Affäre um den mutmasslichen Spionage-Ballon, haben die Chinesen gegenüber Europa eine eigentliche Charmeoffensive lanciert, etwa am WEF in Davos.
Das Kalkül dahinter ist durchschaubar: Nach drei Jahren harter Zero-Covid-Isolation ist Chinas Wirtschaft angeschlagen. Sie ist vom Westen stärker abhängig als umgekehrt. Also möchte Peking zumindest das Verhältnis mit Europa aufpolieren und hofft gleichzeitig, die Schaffung eines europäisch-amerikanischen Blocks zu verhindern.
Hinzu kommt, dass Europa durch den Ukraine-Krieg viel direkter betroffen ist als die USA. Die Kriegsmüdigkeit nimmt zu und mit ihr die Rufe nach Verhandlungen, vor allem in Deutschland, dem wichtigstem Wirtschaftspartner der Volksrepublik in Europa. Ein chinesischer Friedensplan könnte in einem solchen Umfeld auf fruchtbaren Boden fallen.
Wie aber könnte der Plan aussehen? Wang Yi machte in München nur vage Andeutungen. Das von Xi Jinpings «wichtigen Vorschlägen» inspirierte Dokument werde auf der Souveränität und territorialen Integrität aller Länder, den Prinzipien der UNO-Charta, den legitimen Sicherheitsinteressen aller Länder und einer friedlichen Lösung der Krise basieren.
Mit seinem Überfall auf die Ukraine aber hat Wladimir Putin diese Grundsätze mit Füssen getreten. Man fragt sich, wie der chinesische Friedensplan unter diesen Umständen funktionieren soll. Experten gehen davon aus, dass derzeit nicht viel mehr möglich ist als eine Waffenruhe und ein «Einfrieren» des Konflikts entlang der heutigen Frontlinien.
Die Ukraine wird sich damit kaum abfinden. Aussenminister Dmytro Kuleba traf sich in München ebenfalls mit Wang Yi. Nach dem Gespräch reagierte er zurückhaltend auf die Friedensinitiative. Es sei auch im Interesse der Ukraine, dass China eine Rolle bei der Suche nach Frieden spiele. Die territoriale Integrität der Ukraine sei aber nicht verhandelbar.
«Es sind keine Kompromisse möglich, nicht über den geringsten Quadratmeter», betonte Kuleba und wiederholte damit die Position von Präsident Wolodymyr Selenskyj, wonach Russland sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen müsse. In der Mitteilung des chinesischen Aussenministeriums aber wird dieser Punkt mit keinem Wort erwähnt.
Und ob Russland an Frieden interessiert ist, muss man nach Wladimir Putins aggressiver Rede zur «Lage der Nation» ebenfalls bezweifeln. Sie erhärtet den Verdacht, Putin würde eine Waffenruhe dazu missbrauchen, seine durch hohe Verluste an Mensch und Material angeschlagene Armee aufzurüsten und den nächsten Angriff zu planen.