Rund eine halbe Million Menschen haben das «Manifest für Frieden» von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht bereits unterzeichnet. Da wächst in Deutschland und vielleicht auch in der Schweiz eine neue Friedensbewegung heran. Aber das ist keine gute Nachricht.
Klar, die Zahl von 200'000 Todesopfern, die der russische Vernichtungsfeldzug in der Ukraine im ersten Kriegsjahr gefordert hat, ist schrecklich. Da hoffen wir alle, der Krieg möge bald aufhören und der Konflikt sich am Verhandlungstisch lösen lassen. Eine allerdings fromme Hoffnung, weil keine Seite nur schon zu einem längeren Waffenstillstand bereit ist.
Schwarzer/Wagenknecht fordern jetzt in ihrem Manifest, die «Eskalation der Waffenlieferungen» sofort zu stoppen. Doch wer sagt, dass die Waffen schweigen, wenn Deutschland und andere Staaten keine Panzer mehr in die Ukraine liefern? Es sprechen dann eben bald nur noch die russischen Waffen und schaffen jene Tatsachen, die Putin immer als Kriegsziel ausgegeben hat.
Die Ukraine ist dann nicht länger ein souveräner Staat, sondern wieder Teil des russischen Imperiums. Und Putin kann in Ruhe den nächsten Angriff auf abtrünnige Nachbarstaaten planen. Bis jetzt kam noch keine einzige Silbe über seine Lippen, die ernsthaft auf seine Friedensbereitschaft schliessen lässt, es sei denn, er diktiert die Bedingungen.
Also richten sich Schwarzer/Wagenknecht weniger an Putin als an die grundsätzlich Gesprächswilligen: die ukrainische und die deutsche Regierung. Sie will man mit dem Friedensaufruf unter Zugzwang setzen. Deutschland soll keine Waffen mehr liefern, und die Ukraine hat sich gefälligst kompromissbereit zu geben, statt sich mit Waffen zu verteidigen. «Verhandeln heisst nicht kapitulieren», schreiben Schwarzer/Wagenknecht, «Verhandeln heisst, Kompromisse machen, auf beiden Seiten.» Das ist der unheimlichste Satz im Manifest.
Es ist politisch schlicht unanständig, wenn Schwarzer/Wagenknecht von den ukrainischen Opfern des russischen Angriffskrieges verlangen, dass sie die Waffen strecken sollen, nur damit die Deutschen wieder ihren Frieden haben. Es widerspricht jedem Gerechtigkeitsempfinden, den unschuldigen Ukrainern in gleicher Weise Kompromisse abzuverlangen wie den schuldigen Russen. Es ist schon höherer Machiavellismus oder eben Putinismus, wenn man auf diese Weise einen Frieden erzwingen will.
Schwarzer/Wagenknecht wollen die russischen Kriegsverbrecher in ihrem Friedensaufruf nicht anders behandeln als die ukrainischen Kriegsopfer. An einer einzigen Stelle im Manifest steht: «Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.» Das hätte ein guter Anfang sein können, aber es bleibt der einzige Satz, der russische Täter und ukrainische Opfer nicht gleichsetzt und damit die Gewaltverhältnisse verschleiert.
Von Schwarzers und Wagenknechts Friedensaufruf, den sie gut gelaunt in einem Twitter-Video lancierten, profitiert Putin, der sich wieder einmal ins Fäustchen lachen kann, wie westliche Politikerinnen und Intellektuelle sich zwar wortreich mit der überfallenen Ukraine solidarisieren, sie faktisch aber durch einen Waffenstopp schwächen wollen und damit den Aggressor Russland stärken würden.
Der russische Präsident Putin taucht im Manifest nur an einer Stelle auf, und da als Angegriffener, der für den Fall, dass ihm die Krim wieder entrissen wird, zum maximalen Verzweiflungsschlag ausholen könnte, wie Schwarzer/Wagenknecht befürchten. Der ukrainische Präsident Selenski kommt auch nur einmal vor im Manifest, und zwar als potenzieller Angreifer, der immer mehr Panzer, Kampfjets, Langstreckenraketen und U-Boote verlange, und Schwarzer/Wagenknecht fragen sich besorgt, ob er «Russland auf ganzer Linie» besiegen will.
Und so steht plötzlich Russland als Opfer des ukrainischen Präsidenten da. Diese bewährte Täter-Opfer-Umkehr schleicht sich unter den Friedensbewegten immer wieder ein. Fehlt nur noch, dass in alter friedensbewegter Tradition die eigentlichen Bösen und Schuldigen im Weissen Haus in Washington und bei der Nato gesucht werden.
Angestossen von Frauen wie Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht entsteht eine neue, aber unheimliche «Friedensbewegung», die zu einem Frieden um jeden Preis bereit ist, der hauptsächlich auf Kosten der Ukraine ginge. Am 25. Februar will man erstmals vor dem Brandenburger Tor für diesen Frieden demonstrieren.
Auch in der Schweiz ist am 25. Februar eine Demo vom eher linken Bündnis «Schluss mit Krieg» und der «Schweizerischen Friedensbewegung» in Zürich geplant. Am 11. März will dann die rechte Bewegung «Massvoll» auf dem Bundesplatz mit Schweizer- und Friedensfahnen aufmarschieren.
Das zeichnet die neue «Friedensbewegung» aus, dass sie Kräfte von extrem links bis extrem rechts vereint. Alle politischen Richtungen sind vertreten. Neben Sahra Wagenknecht und ihrem Mann Oskar Lafontaine finden sich unter den Erstunterzeichnern des Manifestes Moderate wie der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen von der SPD, Grüne wie Antje Vollmer, Konservative wie der CSU-Politiker Peter Gauweiler und Martin Sonneborn, Chef der Satiregruppierung «Die Partei».
Obwohl Sahra Wagenknecht sich gegen Unterstützung aus der AfD verwahrt, holt ihr putinnahes Manifest auch Rechtsextreme, Querdenkerinnen, ehemalige Coronaleugner und hartgesottene Pazifistinnen ab, die nun lautstark propagieren, Frieden könne es nur mit Russland, nicht gegen Russland geben. Viele Erstunterzeichner des Manifests haben schon Wagenknechts gescheiterte Bewegung «Aufstehen!» unterstützt, in der sich nicht zuletzt Personen aufgehoben fühlen, die alles Linksliberale und Woke und Queere ablehnen.
Ein buntes Protestbündnis also, das sich da formiert. Sahra Wagenknecht ist mit ihren 53 Jahren schon fast der Teenager unter den neuen Friedensbewegten. Einer ihrer treuesten Gefolgsmänner ist neben ihrem Ehemann Oskar Lafontaine der Brigadegeneral a. D. Erich Vad, der bislang vor allem durch Fehlprognosen zum Krieg glänzte (er prophezeite der Ukraine eine schnelle Niederlage).
Warm für das Manifest setzen sich Kirchenleute wie Margot Kässmann ein. Dazu viel Volk aus der Kultur. Zu den Erstunterzeichnern gehört der Dirigent Justus Frantz, der noch mitten im Kriegsjahr 2022 in Russland auftrat und sich dabei als «Brückenbauer» verstand. Der Liedermacher Reinhard Mey ist ebenso dabei, für den die grenzenlose Freiheit seit jeher über den Wolken schwebt.
Bei den Schriftstellern sticht der aus Russland stammende deutsche Buchpreisträger Eugen Ruge heraus, der vor Monaten schon die Verteufelung Russlands geisselte. Aus der Schweiz hat sich einzig die «Weltwoche», die seit Jahren jedem Diktator hinterherhechelt, mit warmen Worten für das Manifest stark gemacht.
Einen eigenen Appell zu Verhandlungen hat Mitte dieser Woche der Philosoph Jürgen Habermas in der «Süddeutschen Zeitung» veröffentlicht.
Er hält sich lange an der Formulierung auf, ob man «Russland besiegen» muss, um einen Frieden zu ermöglichen. Habermas präferiert die defensivere Formulierung, dass «die Ukraine nicht verlieren darf». Er drängt wie Schwarzer/Wagenknecht auf einen Kompromiss, ohne allerdings zu verschweigen, dass Putin noch gar nicht mit sich reden lässt.
Der Kompromiss, wie ihn der Philosoph sich vorstellt, gleicht einer Quadratur des Kreises: Einerseits darf die russische Seite keine über die Zeit vor dem Kriegsbeginn am 23. Februar 2022 hinausreichenden Eroberungen von Territorium behalten, andererseits muss man Putin erlauben, sein Gesicht zu wahren. Habermas argumentiert in seinem Plädoyer für Verhandlungen schlüssig gegen sich selbst. Er zeigt auf: Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt sind eine Wunschvorstellung.
Als der ukrainische Autor und Musiker Serhij Zhadan im letzten Herbst den Friedenspreis des deutschen Buchhandels bekam, warnte er vor jenen Europäern, die seinen Landsleuten ihre Weigerung, sich widerstandslos zu ergeben, schon als «Ausdruck von Militarismus und Radikalismus» anlasten. Es gebe einen falschen Pazifismus, der aus der «Komfortzone» heraus argumentiere und letztlich darauf hinauslaufe, «das totale, enthemmte Böse zu schlucken». (aargauerzeitung.ch)
Das ist keine Friedensbewegung!