«Ich gehe nach Itaewon, um Halloween zu feiern.» Das war die letzte Nachricht, die die 25- jährige Südkoreanerin an ihren Vater Kim schickte. Unbeschwert feiern, das wollten Zehntausende an diesem Wochenende in dem beliebten Ausgehviertel der Hauptstadt Seoul. Es war das erste Wochenende in drei Jahren, an dem es keine pandemiebedingten Maskenpflichten und Beschränkungen mehr gab.
Doch dann verloren mehr als 150 überwiegend junge Menschen in der Nacht auf Sonntag ihr Leben, erdrückt in einem Massenansturm in einer engen Gasse. Für das Land ist es die schlimmste Tragödie seit vielen Jahren – für die Hinterbliebenen wohl die schlimmste ihres Lebens.
Kim weint, als er die letzte Nachricht seiner Tochter Journalisten der lokalen Medien zeigt. «Ich dachte, ich hätte jetzt keine Sorgen mehr, weil ich alle meine Kinder grossgezogen habe. Aber jetzt weiss ich nicht, wie ich leben soll», sagt er laut einem Bericht des «Guardian», als er am Sonntag in der Trauerhalle eines Krankenhauses wartet.
Seine Tochter war an seinem Geburtstag gestorben. Als Geschenk hatte sie für ihre Eltern ein Abendessen in einem schicken Restaurant gebucht – und an dem Abend noch eine Nachricht geschickt: «Hab eine gute Zeit mit Mama.» Sie selbst hatte sich zu den Halloween-Feierlichkeiten aufgemacht.
Um kurz nach 22 Uhr begann die Katastrophe in dem angesagten Quartier mit vielen internationalen Restaurants, Bars und Clubs: Immer mehr Menschen drängten in eine nur etwa vier Meter breite, abschüssige Gasse hinein. Niemand habe sich mehr bewegen können, berichten Augenzeugen. Das habe dazu geführt, «dass andere Leute schrien und wie Dominosteine umfielen», schrieb eine anonyme Person auf Twitter.
Mehr Frauen als Männer sind dabei nach Angaben der Feuerwehr ums Leben gekommen, knapp 100 an der Zahl. Es wird vermutet, dass dies auf den vergleichsweise fragilen Körperbau vieler Frauen zurückzuführen ist, berichtet «ntv».
Die 23-jährige Suah Cho sagte dem US-Nachrichtensender CNN: «Manche Leute gingen nach vorne, andere zurück, und dann schubsten sie sich gegenseitig.» Sie sei am Rand der Menschenmasse gewesen und habe sich deshalb in ein Gebäude retten können. Andere Leute sollen versucht haben, an den Wänden der Gebäude hochzuklettern, um dem Gedränge zu entfliehen. Wer aber mittendrin war, hatte keine Chance.
So muss es Steven Blesi ergangen sein, der in dem Gedränge starb. Für den US-Amerikaner hatte es endlich geklappt, im Rahmen seines Studiums ins Ausland zu gehen. Das hatte sich der 20-Jährige seit Langem gewünscht. Durch die Pandemie war es jedoch zuvor nicht möglich gewesen. Das berichtet sein Vater Steve der «New York Times». «Er war ein abenteuerlustiger und liebevoller Geist», sagt sein Vater nach der Nachricht des Todes seines Sohns. «Das ist die einzige Art, wie ich ihn beschreiben kann. Der Verlust ist einfach unerträglich.»
Seit zwei Monaten war der Wirtschaftsstudent in der koreanischen Hauptstadt gewesen. Gerade hatte er die Zwischenprüfungen überstanden und war mit Freunden losgezogen, um zu feiern. Als den Vater im amerikanischen Atlanta die ersten Nachrichten des Unglücks erreichten, versuchte er verzweifelt, seinen Sohn zu erreichen. Auch auf der Plattform Twitter setzte er einen Post ab, mit einem Bild seines Sohnes versehen – und der Bitte, sich an ihn zu wenden, wenn jemand Informationen geben könne.
Our son was in the area of stampede in Seoul, we still have not heard from him. Authorities are trying to help. If anyone has any news please share. pic.twitter.com/E5qKkzUBfU— Steve Blesi (@steve_blesi) October 30, 2022
Später dann rief ihn ein Polizeibeamter vom Handy seines Sohnes aus an – und hat ihm die Nachricht vom Tod Stevens übermittelt. «Es war, als würde es hundert Millionen Mal gleichzeitig zustechen», sagt Blesi der «New York Times». «Es war, als würde deine Welt zusammenbrechen. Es war betäubend und verheerend zugleich.»
Insgesamt 22 Ausländer sind unter den Todesopfern, meldet die Nachrichtenagentur Yonhap am Sonntagabend mit Verweis auf die Feuerwehr: Je vier Personen aus China und Iran, drei aus Russland, jeweils eine aus den USA, aus Frankreich, Australien, Vietnam, Usbekistan, Norwegen, Kasachstan, Sri Lanka, Thailand und Österreich; bei einem Opfer stand die Nationalität noch nicht fest.
Die meisten der Toten sind ältere Teenager oder Zwanzig- bis Dreissigjährige. Auch der koreanische Schauspieler und Sänger Lee Ji-han kam in dem Gedränge ums Leben. Seine Agentur bestätigte am Sonntag seinen Tod.
Der 25-Jährige habe immer ein Lächeln im Gesicht gehabt und Menschen mit Energie begrüsst. «Er war ein heller und reiner Mensch, und wir können nicht glauben, dass wir ihn nicht mehr sehen können werden», heisst es in einem entsprechenden Statement. Man werde ihn in Erinnerung behalten als jemanden, der sich mit grosser Leidenschaft der Schauspielerei gewidmet habe.
Lee war im Jahr 2017 durch seinen Auftritt bei dem Gesangs-Talentwettbewerb «Produce 101» bekannt geworden. Danach hat er sich erfolgreich dem Schauspiel zugewandt, begann nur ein Jahr später, in einer Webserie mitzuspielen.
Zwei Tage nach dem Vorfall hat die Regierung eine gründliche Untersuchung der Katastrophe angekündigt. Man wolle die Ursache des Unfalls herausfinden und die nötigen Massnahmen ergreifen, damit sich solch ein Vorfall nicht wiederhole, sagte Premierminister Han Duck Soo am Montag. Zu diesem Zweck wolle die Regierung dafür sorgen, betroffene Einrichtungen und Systeme zu verbessern. Details waren zunächst nicht bekannt. Südkoreanische Zeitungen kritisierten, dass die Behörden auf den Ansturm so grosser Massen offensichtlich nicht vorbereitet gewesen seien.
Auch im Ausland rief die Katastrophe Bestürzung hervor. «Die tragischen Ereignisse in Seoul erschüttern uns zutiefst», schrieb Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf Twitter. «Unsere Gedanken sind bei den vielen Opfern und Angehörigen.» Der amerikanische Präsident Joe Biden erklärte, die Vereinigten Staaten stünden in dieser tragischen Zeit an der Seite Südkoreas. Japans Ministerpräsident Fumio Kishida kondolierte im Namen des japanischen Volkes. Er sei tief traurig und bete für die schnelle Erholung der Verletzten, äusserte Kishida.
In Südkorea selbst wurde eine einwöchige Staatstrauer ausgerufen. Veranstaltungen und Konzerte wurden abgesagt, die Flaggen sollten landesweit auf halbmast wehen.
((t-online,dpa,AFP,Reuters,lib ))