Mehr als eine Million Ukrainer:innen sind seit Beginn der russischen Invasion nach Deutschland geflohen. Einige Hundert Deutsche haben den Weg in umgekehrter Richtung zurückgelegt, um bei der Verteidigung der Ukraine zu helfen. Der 30-jährige Rico K. ist einer von ihnen. Im Zuge seines Einsatzes fiel er in die Hände der belarussischen Sicherheitskräfte. Nun erwartet ihn die Hinrichtung.
«Ich bekenne mich schuldig, definitiv», gestand der gebürtige Berliner vor einem Gericht in der Hauptstadt Minsk kurz vor der Urteilsverkündung. Als humanitärer Helfer soll sich der Sanitäter vom Deutschen Roten Kreuz verpflichtet haben. In einem vom belarussischen Staatsfernsehen veröffentlichten Video fleht Rico K. nun um Gnade und die Hilfe der Bundesregierung.
Bereits seit einem Monat ist das Schicksal Rico K.s besiegelt. Ein Regionalgericht befand ihn fünf strafrechtlicher Anklagepunkte schuldig. Vorgeworfen werden ihm illegaler Waffenbesitz, Agententätigkeit, Mitgliedschaft in einer extremistischen Vereinigung, Söldnertum und Terrorismus. Dafür droht ihm der Tod durch Genickschuss. Belarus ist das letzte Land Europas, in dem die Todesstrafe noch gilt.
German National Sentenced to Death in Belarus
— Freedom Square News (@Freedom_Square_) July 20, 2024
Rico K., a 30-year-old German military doctor, has been sentenced to death by a Minsk court on charges including terrorism and mercenary activities. His conviction relates to his alleged involvement with the Kastus Kalinouski… pic.twitter.com/UkWPwN5wEP
Rechtskräftig ist der Richterspruch bereits seit dem 24. Juni, nun führte ihn das staatliche Fernsehen öffentlich vor. Unter Tränen gesteht K. in einem Videoclip seine Schuld ein. Demnach soll er im Oktober 2023 eine Bombe von einem ukrainischen Agenten erhalten und auf einem Bahngleis in der Nähe der Hauptstadt platziert haben. Der Sprengsatz ging, ohne nennenswerte Schäden zu produzieren, in die Luft.
Dennoch beteuerte der Deutsch-Belarusse: «Ich bereue jede einzelne Sekunde.» Er danke Gott, «dass niemand getötet oder verletzt» wurde. Seine flehentliche Bitte an den Mann, der lange Zeit als letzter Diktator Europas galt: «Ich kann nur hoffen, dass der Präsident dieses Landes, Herr Lukaschenko, mir verzeiht.» Von Deutschland fühle sich der 30-Jährige, der nach Belpol-Informationen in einem Geheimdienst-Gefängnis einsitzt, «völlig im Stich gelassen».
Dass ein deutscher Staatsbürger in die Fänge der Militärregierung geraten ist, spielt Lukaschenko in die Karten. Denn K. könnte für den seit 1994 regierenden Diktator ein Hebel sein, um die Position seines isolierten Landes zu verbessern. Just an dem Tag, an dem in Russland der US-Journalist Evan Gershkovich zu 16 Jahren Lagerhaft für Spionage verurteilt wurde, lancierte die Regierung die Verurteilung.
Dabei wählte sie einen ungewöhnlichen Weg. Statt über die Staatsmedien oder eine Pressemitteilung fand die Information ihren Weg über Menschenrechtsorganisationen in die Öffentlichkeit. Wie der «Spiegel» berichtet, gingen bei sieben unabhängige NGOs und Medien gleichzeitig die Gerichtsdokumente ein.
Die belarussische Aktivistengruppe Viasna und die Exil-Vereinigung ehemaliger belarussischer Kriminalisten Belpol gehörten dazu. Auf Lukaschenkos Schachbrett sind sie es, die die Nachricht über das Urteil möglichst medienwirksam in den Westen tragen sollen. Bisher liess sich die Bundesregierung noch nicht aus der Deckung locken.
Minsk erklärte dagegen, dass deutsche Diplomaten bereits Kontakt aufgenommen hätten. Demnach wird hinter den Kulissen über das Schicksal K.s verhandelt. Welchen Vorteil sich Lukaschenko verspricht, ist unklar. Möglich ist, dass der Diktator sich Putins Strategie abgeschaut hat, Westler unter fadenscheinigen Behauptungen festnehmen zu lassen und als Geisel in einem Kuhhandel zu benutzen.
Ein mögliches Ziel könnte die Intensivierung der diplomatischen Verhältnisse mit Deutschland sein. Mehrere Tiefpunkte, wie die belarussische Beteiligung bei der Invasion der Ukraine, einer gefälschten Wahl und dem brutalen Niederschlagen der Proteste, haben dazu geführt, dass Deutschland seinen Botschafter aus Minsk abgezogen hat. Derzeit wird die Vertretung lediglich kommissarisch geführt.
Prominente Belarussen sitzen nicht in Deutschland ein. Womöglich peilt Lukaschenko trotzdem einen Gefangenenaustausch an. Eine Personalie könnte in dem Fall interessant werden: der Tiergartenmörder Wadim Krassikow. Im August 2019 hatte der russische Agent einen Tschetschenen mit georgischem Pass in Berlin hingerichtet.
Seit seiner Verhaftung gilt er als Objekt der Begierde Putins. Lukaschenkos Kalkül könnte sein, gegenüber dem Kreml wieder mehr auf Augenhöhe zu begegnen, nachdem Putin ihn 2020 vor nationalen Demokratie-Protesten rettete.
Auf Anfrage des «Spiegel» erklärte das Auswärtige Amt lediglich, dass es die Todesstrafe scharf verurteile. Mehrere Menschenrechtsorganisationen riefen Belarus zur Rücknahme der Entscheidung auf, das Urteil sei grob unangemessen.
Während niemand verletzt oder getötet wurde, ist der materielle Schaden, den die Explosion im vergangenen Oktober verursacht hat, in der Anklageschrift klar beziffert: 1639,66 belarussische Rubel. Rico K. droht wegen 461 Euro der Tod durch Genickschuss.
Der deutsche Gefangene spielt seine Rolle in dem Video, genau wie Lukaschenko sich das für eine Geiselerpressung vorgestellt hat. «Noch lebe ich, noch hat man Zeit zu verhandeln, noch ist es nicht zu spät», so sein Appell. «Die Regierung sollte um mich kämpfen».