Walter Scott war 50 Jahre alt, als er an einem Samstag im April in einem Park in North Charleston getötet wurde. Der Schütze, ein 33-jähriger Polizist namens Michael Slager, berief sich in einer ersten Anhörung auf Notwehr.
Wieder ein schwarzes Opfer, wieder ein weisser Polizist, der geschossen hat.
Dann, wenige Tage später, tauchte ein Handy-Video auf, das zeigt, wie Slager acht Mal den Abzugshahn durchdrückt – fünf der Kugeln treffen Scott von hinten, die anderen gehen daneben. Scott, ein 50-jähriger Schwarzer, war keine Bedrohung für den Polizisten – er lief von diesem weg.
Am Dienstag gaben die Strafverfolgungsbehörden South Carolinas bekannt, dass Slager wegen Mordes angeklagt werden würde.
Auf den ersten Blick ist es nur der letzte Vorfall in einer langen Kette tragischer Ereignisse, in der US-Polizisten brutal und unverhältnismässig handeln. Die Konstellation ist dabei oftmals die gleiche: Weisser Polizist, schwarzes Opfer.
Die schnelle Reaktion der Strafverfolgungsbehörden unterscheidet sich aber massgeblich von früheren Fällen. Das Amateur-Video spielt dabei sicherlich eine Rolle, die Protestwellen, die seit dem Fall Ferguson im August 2014 regelmässig über die USA rollen, wahrscheinlich auch. Sie haben die Wahrnehmung der amerikanischen Öffentlichkeit für die Polizeigewalt geschärft. Gewalt, die sich ausnehmend oft gegen die schwarze Minderheit richtet.
Ob es sich dabei um strukturellen Rassismus in den amerikanischen Polizeikorps handelt, ist schwierig zu beantworten. Die folgenden sechs Statistiken versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen.
Zahlen zu tödlicher Polizeigewalt in den USA sind rar. Das FBI veröffentlicht zwar eine jährliche Liste von Tötungen durch Polizisten. Diese leiden aber an mehreren Defiziten: Erstens sind die Zahlen unvollständig. Das liegt daran, dass in den USA für die lokalen Polizeikräfte keine Pflicht besteht, ihre Daten an eine übergeordnete staatliche oder nationale Stelle weiterzuleiten. Längst nicht alle der mehreren Tausend Polizeiämter liefern ihre Daten an die FBI-Zentrale.
Zweitens werden die Zahlen nach ihrer Veröffentlichung durch lokale Polizeistellen vom FBI nicht überprüft. Und drittens werden nur sogenannte «justifiable homicides» aufgeführt. Dabei handelt es sich nicht um eine rechtliche Kategorie, sondern um die Bezeichnung für Tötungen, die «in-line-of-duty», also während der Ausübung von Polizeieinsätzen erfolgten.
Die von dem FBI veröffentlichten Daten weisen für das Jahr 2013 eine Zahl von 461 durch Polizisten getötete Personen aus, 2012 fielen 426 Menschen Polizeigewalt zum Opfer. Dabei handelt es sich also um das Minimum von durch Polizeigewalt getöteten Menschen in den USA.
Auch wenn die FBI-Statistik unvollständig ist, ist sie durchaus hilfreich, und zwar, weil sie die Zahlen etwa nach Ethnie, Alter, sowie Umständen der Tötung aufschlüsselt. Die detaillierte FBI-Statistik ist zwar nicht öffentlich zugänglich, allerdings konnte die Newssite «Vox» einige Zahlen daraus veröffentlichen. Was Eric Garner, Michael Brown und Rumain Brisbon gemeinsam ist, ist, dass sie alle unbewaffnet erschossen worden waren. Von den 426 getöteten Personen wurden gemäss Vox 118 nicht erschossen, weil sie Polizisten angriffen, sondern weil sie:
Gemeinsam ist diesen Punkten, dass sie nicht Polizisten angriffen, dass also die Vermutung besteht, dass die beteiligten Polizisten nicht etwa in Gefahr waren und/oder dass die Opfer keine Gefahr für die Öffentlichkeit waren.
An der Gesamtbevölkerung der USA haben Schwarze einen Anteil von 13 Prozent.
Indes ist der Anteil von Schwarzen, die bei Polizeieinsätzen getötet werden, deutlich höher, wie diese Grafik zeigt:
Spätestens seit seinen exakten Prognosen bei der Präsidentschaftswahlen 2008 gilt Nate Silver als Doyen des Datenjournalismus in den USA. Auf seinem Blog FiveThirtyEight publizieren er und sein Team regelmässig Studien und Statistiken. In einem Beitrag vom 12. September zeigt Silver die oben erwähnten Mängel der Mordstatistik des FBI auf.
Die zuverlässigsten Daten zu Mordraten in den USA liefert gemäss seiner Einschätzung eine Facebook-Seite namens «Killed by Police». Die Seite beruft sich bei ihren Zahlen alleine auf Medienberichte. Ihren Angaben zufolge wurden in diesem Jahr bis heute bereits 1022 Todesfälle infolge von Polizeigewalt verzeichnet.
Das renommierte Umfrageinstitut Pew Research Center hat in einer grossangelegten Studie die Rassenunterschiede in den USA beleuchtet. 46 Jahre nach Martin Luther Kings Tod sind die Resultate ernüchternd. Während 75 Prozent aller weissen Befragten der Meinung sind, dass die Polizei die verschiedenen Ethnien und Rassen fair behandelt, schrumpft diese Zahl bei den schwarzen Befragten auf 30 Prozent.
Umgekehrt glauben 70 Prozent der Schwarzen, dass Polizisten bei Fehlverhalten nicht oder nur ungenügend zur Verantwortung gezogen werden. Vor dem Hintergrund, dass überdurchschnittlich viele Polizisten weiss sind – in Ferguson beispielsweise sind bei einem Bevölkerungsanteil von 67 Prozent Schwarzen sind gerade einmal 3 von 53 Polizisten schwarz – kann dieses Misstrauen zu einer Vertiefung des ethnischen Grabens führen.
Die Wahrscheinlichkeit, eines Tages im Gefängnis zu landen, ist bei Schwarzen und Latinos um ein Vielfaches höher als bei weissen Amerikanern. Jeder dritte schwarze Amerikaner sitzt gemäss einer Studie des «Sentencingprojects» einmal in seinem Leben im Gefängnis.
Bei den Hispano-Amerikanern ist es jeder Sechste, bei weissen Amerikanern nur jeder 17. Laut einem Bericht der amerikanischen Newssite Vox verbüssen schwarze Amerikaner für das gleiche Verbrechen durchschnittlich 20 Prozent längere Gefängnisstrafen als Weisse.
Im Jahr 2013 starben 12'253 Personen infolge von Gewaltakten. Schwarze machten dabei 51 Prozent der Mordopfer aus, während ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung bei gerade mal 13 Prozent liegt. Das Risiko für Schwarze, einem Gewaltverbrechen zum Opfer zu fallen, liegt also deutlich höher als bei allen anderen Minderheiten.
Die «NZZ» weist allerdings in einem Artikel vom 29. November darauf hin, dass Schwarze mehrheitlich von Schwarzen getötet werden. Tatsächlich ist dasselbe Phänomen auch bei weissen Opfern von Gewaltverbrechen zu beobachten. Mit anderen Worten: Schwarze bringen Schwarze um, Weisse Weisse, und so weiter.
Eine mögliche Erklärung liefert die Verteilung innerhalb der Wohnbevölkerung: In strukturschwachen Ballungszentren rund um die Great Lakes und im Süden des Landes existieren regelrechte Ghettos mit schwarzen Einwohnern, während gutbetuchte Weisse beispielsweise in Neuengland in vielen Gemeinden unter sich bleiben.
Anmerkung der Redaktion: Beim vorliegenden Text handelt es sich um die aktualisierte Fassung eines im Dezember 2014 erstmals erschienen watson-Artikels.