«Diese Erben gehen, solange es gesundheitlich geht»
Frau Opel, Sie bezeichneten die Juso-Initiative bereits als ein «düsteres Kapitel, das schnell abgeschlossen werden muss». Stellen Sie sich vor, sie käme durch: Wie sähe die Schweiz im Jahr 2035 aus?
Andrea Opel: Dann stünde der Schweiz ein noch düstereres Kapitel bevor. Schon der blosse Umstand, dass die Abstimmung stattfindet, hat zu Wegzügen und Nichtzuzügen von guten Steuerzahlern geführt. Im Fall einer Annahme wäre 2035 damit zu rechnen, dass praktisch alle der betroffenen wohlhabenden Steuerzahler weggezogen sind.
Der Bundesrat schreibt, dass bis zu 98 Prozent der Betroffenen die Schweiz verlassen könnten. Ist das nicht übertrieben?
Nein. Es wird zwar oft bezweifelt, ob sie tatsächlich gehen. Ich bin aber überzeugt davon, denn ich stand mit Betroffenen im Austausch. Sie gehen, solange es gesundheitlich geht. Einzelne sind bereits weg, etwa nach Liechtenstein oder Italien. Dass nicht schon viel mehr gegangen sind, verdanken wir übrigens dem Bundesrat.
Weshalb?
Wegen der Klarstellung des Bundesrats, wonach die Massnahmen gegen Steuervermeidung erst ab Erlass einer Verordnung gelten. Dadurch ist ein Wegzug auch nach einer allfälligen Annahme der Initiative möglich.
Was wären die Folgen für die Schweiz, wenn es zu einem Massenexodus der Superreichen kommen würde?
Es gäbe keine Mehreinnahmen, sondern Mindereinnahmen: Das Steuersubstrat der Betroffenen wäre weg und mit ihnen werden auch Unternehmen und Family Offices abwandern. Dadurch gingen viele Arbeitsplätze verloren und die Steuereinnahmen nähmen insgesamt noch weiter ab. Eine Abwärtsspirale sondergleichen würde eintreten. Für das Loch müssten Mittelstand und Normalverdienende aufkommen. Da sprechen wir von sehr grossen Beträgen.
Gegner der Initiative behaupten, jeder Haushalt müsste 1265 Franken pro Jahr mehr bezahlen.
Die genaue Zahl zu bestimmen, ist schwierig, sie könnte auch höher liegen. Klar ist: Wir sind stark auf die Steuereinnahmen der sehr Vermögenden angewiesen. Die reichsten 10 Prozent der Vermögenden zahlen rund 86 Prozent der Vermögenssteuer, die 10 Prozent der Bestverdienenden 53 Prozent der Einkommenssteuer. Das ist etwa ein Viertel aller Steuereinnahmen.
Laut Schätzungen geht es um etwa 2500 Personen, also rund 0,0278 Prozent der Bevölkerung, das laut Studien überdurchschnittlich viel Klimaschäden verursacht. Die Juso sagt: Wenn jemand mehr zerstört, soll er auch mehr zahlen. Ist das nicht fair?
Dieses Reichenbashing ist viel zu pauschal. Klimaschädliches Verhalten beginnt nicht bei 50 Millionen Franken. Wenn man wirklich für den Umweltschutz eine Steuer einführen will, müsste sie gezielt zu umweltfreundlichem Verhalten animieren. Das berücksichtigt die Erbschaftssteuer-Initiative überhaupt nicht.
Weshalb ist es ein Problem, wenn nur die Allerreichsten zahlen?
Wir haben in der Verfassung den Grundsatz der Allgemeinheit der Besteuerung: Jeder soll Steuern zahlen. Es gibt keinen sachlichen Grund, eine Erbschaft von 10'000 Franken nicht zu besteuern, eine von 50 Millionen aber schon. Verfassungskonform wäre eine Erbschaftssteuer, die bei einem Franken anfängt, unter Umständen verbunden mit einer gewissen Progression. Diese Steuer nur für eine kleine Gruppe ist heikel.
Wenn wir die Juso-Idee einen Moment beiseitelassen: Gibt es ein Modell von Erbschafts- oder Vermögenssteuer, das Sie als fair empfinden würden?
Man kann durchaus über andere Modelle nachdenken. Ich persönlich finde eine Erbschaftssteuer grundsätzlich besser als eine Vermögenssteuer.
Weshalb?
Die Erbschaftssteuer ist eine volkswirtschaftlich sinnvolle Steuer. Besteuert wird ein leistungslos erhaltener Vermögenszugang, was wenig negative Erwerbsanreize setzt. Die Vermögenssteuer ist dagegen schwer begründbar und international die grosse Ausnahme. Letztlich wirkt sie wie eine vorgezogene Erbschaftssteuer.
Wie das?
In Zürich zahlt jemand mit 10 Millionen Vermögen rund 0,6 Prozent Vermögenssteuer, also 60'000 Franken pro Jahr. Über 30 Jahre sind das 1,8 Millionen. Das ist de facto eine Erbschaftssteuer von 18 Prozent.
Statt eine Steuer durch die andere zu ersetzen, möchten die Initianten eine stärkere Besteuerung der Superreichen – auch wegen der wachsenden Ungleichheit.
Das ist letztlich eine Frage der politischen Gesinnung. Ich finde es problematisch und gefährlich, wenn man sich nur auf «die Reichen» einschiesst.
Warum?
Es gibt so etwas wie einen «social contract»: Vermögende zahlen mehr Steuern, vor allem über die Progression bei der Einkommenssteuer und die Vermögenssteuer – aber das tun sie bereits heute. Das ermöglicht eine weitgehende Entlastung der unteren Bevölkerungsschicht und eine eher moderate Besteuerung des Mittelstandes. Zur Minderheit, welche die Hauptlast der Steuerlast in der Schweiz trägt, ist Sorge zu tragen – das Fuder darf nicht überladen werden.
Gäbe es trotzdem noch Potenzial für höhere Besteuerung?
Hier geht es um die Frage: Wie viel Umverteilung will man? Ökonomen sagen: Die Einkommensungleichheit in der Schweiz ist relativ stabil, die Vermögensungleichheit hat sich akzentuiert. Das Gefühl, in einer ungleicher gewordenen Gesellschaft zu leben, hat stark zugenommen. Darauf kann man reagieren, aber unbedingt mit Augenmass.
Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz spricht von einem weltweiten «Ungleichheitsnotstand» und warnt: je grösser die Vermögensunterschiede, desto anfälliger wird eine Demokratie. Macht es aus demokratischer Sicht nicht Sinn, Ungleichheit aktiver abzubauen?
Ich möchte seine These nicht infrage stellen. Es braucht Umverteilung. Eine solche muss aber mit Fingerspitzengefühl erfolgen, um den «contract social» nicht zu gefährden. Eine Erbschaftssteuer von 50 Prozent ist ein völlig überzogenes und untaugliches Instrument. Persönlich denke ich, dass es für die demokratische Mitwirkung auch wichtig ist, dass jeder Bürger zumindest einen kleinen Beitrag an Steuern leistet.
Wenn wir in zehn Jahren feststellen, dass die Vermögenskonzentration weiter zugenommen hat: Wären Sie dann bereit, weiterzugehen als heute?
Umverteilung braucht es, und sie findet bereits statt. Die wichtigsten Instrumente sind die Progression bei der Einkommenssteuer und die Vermögenssteuer. Man könnte diese Progression verstärken, wenn der politische Wille da ist. Wie stark, hängt vom Bedürfnis nach Umverteilung und der tatsächlichen Entwicklung der Ungleichheit ab. Entscheidend ist: Man muss die Balance wahren. Wenn man dieses Gleichgewicht stört, schadet man am Ende dem ganzen System.
