Aki-Matilda Høegh-Dam hat die Revolution eingeläutet, ein bisschen zumindest. Als die junge Abgeordnete aus Grönland im Mai eine Rede im dänischen Parlament in Kopenhagen hielt, tat sie dies entgegen aller Konventionen in der Sprache ihrer Heimat: auf Grönländisch. Manche Parlamentarier waren erbost, bezeichneten ihr Verhalten als respektlos, provozierend und kindisch – schliesslich spreche man doch Dänisch im dänischen Parlament! Doch Høegh-Dam ging es nicht darum, dass ihre Parlamentskollegen verstanden, was sie sagte – sondern was sie damit letztlich zum Ausdruck bringen wollte.
«Es ist ein Relikt aus der Kolonialzeit, dass wir im Saal weiterhin nur Dänisch sprechen», sagte die Abgeordnete der Partei Siumut später. «Wenn Dänemark wirklich eine Reichsgemeinschaft wäre, dann könnten wir auch die Sprache des jeweils anderen unterbringen.»
Høegh-Dam hat eines der vier Mandate im dänischen Parlament inne, die Vertretern Grönlands und der Färöer-Inseln vorbehalten sind, die jeweils zum Königreich Dänemark zählen. Sie macht kein Geheimnis daraus, dass es ihr an Gleichbehandlung in dieser Gemeinschaft fehlt. Die 26-Jährige spricht das aus, was viele Grönländer seit Jahrzehnten monieren: Von dänischer Seite fehlt es ihnen an Respekt und Verständnis für ihre Belange, Kultur und Identität. In der Abschlussdebatte des dänischen Parlamentsjahres legte Høegh-Dam nach und fragte, warum Grönland in der stundenlangen Debatte kaum eine Rolle gespielt habe.
Genau 70 Jahre ist es her, dass sich Dänemark 1953 seine bis heute geltende Verfassung gegeben hat. In dem Zuge endete damals auch der Kolonialstatus Grönlands. Die grösste Insel der Erde wurde von der Kolonie ohne Rechte zu einem gleichwertigen Teil Dänemarks, ihre Einwohner wurden dänische Staatsbürger. Und die Dänen machten sich auf, Grönland nach ihren Vorstellungen zu modernisieren.
Der Prozess lief jedoch überstürzt, ohne dass die Grönländer nach ihrer Meinung dazu gefragt wurden, wie Forscher Ulrik Pram Gad vom Dänischen Institut für Internationale Studien sagt. Viele von ihnen hätten sich überrumpelt gefühlt und die formale Dekolonisierung als den Beginn der eigentlichen Kolonisierung wahrgenommen.
Seitdem hat Grönland weitreichende Autonomie mit eigener Regierung und eigenem Parlament erhalten. Dänemarks Regierung entscheidet aber bis heute in Aussen- und Sicherheitsfragen. Finanziell ist die Insel mit ihren knapp 57'000 Einwohnern noch stark von Kopenhagen abhängig. Dänemark gibt das im Gegenzug Mitspracherecht in der Arktis. Auf Dänisch heisst dieses Modell «rigsfællesskab», Reichsgemeinschaft.
In dieser Gemeinschaft hat es regelmässig geknirscht, doch in diesem Jahr rumort es ganz gewaltig. Vor allem Dänemarks Aussenminister Lars Løkke Rasmussen eckt an, etwa durch die Auswahl eines arktischen Botschafters, ohne Grönland dabei zurate zu ziehen. Unverständnis lösten auch Verzögerungen beim Start von Untersuchungen zu schwangerschaftsvorbeugenden Spiralen aus, die grönländischen Frauen und Mädchen in den 1960er Jahren eingesetzt worden waren.
«Derzeit herrscht kein gutes Zusammenarbeitsklima», stellte Grönlands Regierungschef Múte B. Egede vor wenigen Tagen in der dänischen Zeitung «Politiken» fest. Die von Høegh-Dams Rede ausgelöste Debatte zeige, dass das Verhältnis zwischen Dänemark und Grönland im Augenblick «nicht auf dem Höhepunkt» sei.
In der Debatte um das dänisch-grönländische Verhältnis schwingt dabei auch die Frage nach einer grönländischen Unabhängigkeit mit. «Ich arbeite jeden einzelnen Tag dafür, dass das Ziel der Selbstständigkeit näher rückt», sagte Egede zu «Politiken».
Grönland, eines Tages ein unabhängiger Staat? Für viele Grönländer ist das ein lange gehegter Wunsch. Und Ende April hat die Insel einen Schritt getan, damit dies nicht bis in alle Ewigkeit Wunschdenken bleiben muss: Nach mehrjährigen Vorarbeiten legte eine Kommission einen Entwurf für eine mögliche erste grönländische Verfassung vor. Das Parlament in der grönländischen Hauptstadt Nuuk ist nun an der Reihe, zu überlegen, wie es mit dem Vorschlag weitergeht. Konkrete Pläne gibt es noch nicht, viele Fragen sind weiter offen.
«Formal wäre Grönland jetzt bereit für die Unabhängigkeit», sagt Grönland-Experte Pram Gad über den Entwurf. In der Praxis bleibe es aber noch ein weiter Weg. «Die Hauptsache ist, dass Grönland derzeit nicht über die Ressourcen verfügt, um tatsächlich unabhängig zu werden», sagt er. Der Insel würden allein rund vier Milliarden dänische Kronen (knapp 540 Millionen Euro) fehlen, die sie derzeit an jährlichem Blockzuschuss aus Kopenhagen erhält.
Ob Grönland jemals finanziell gänzlich auf eigenen Beinen stehen kann, ist fraglich. Doch Pram Gad sieht neben dem bestehenden Status quo der Reichsgemeinschaft und der völligen Abkopplung von Dänemark noch eine dritte Möglichkeit, eine Art Mittelweg: ein Abkommen über eine freie Assoziierung. Solch ein Modell sind bis heute erst fünf Inselnationen im Pazifik entweder mit den USA oder mit Neuseeland eingegangen. Sie alle sind selbstständig, haben aber eine Verbindung zu ihrer früheren Kolonialmacht behalten. Ein solches Abkommen könnte Grönland auch mit Dänemark aushandeln – oder mit anderen Staaten.
«Mein wahrscheinlichstes Szenario wäre, dass Grönland Dänemark innerhalb von fünf bis zehn Jahren davon überzeugt hat, ein solches Abkommen über eine freie Assoziierung einzugehen», sagt Pram Gad. Dänemark könnte einige der Finanzen schultern, bei der Verteidigung könnten auch die USA mit an Bord sein. In fünf bis zehn Jahren, sagt der Forscher, könnte Grönlands Unabhängigkeit dann stehen – mit einem solchen Freiassoziierungsabkommen unmittelbar danach. (t-online, dpa)