Ein pinker aufblasbarer Flamingo thront auf dem Dach des blauen Lkws, der als Lautsprecherwagen dient. Gold-silberne Rettungsdecken wehen als Flaggen an der Ladefläche. In verblasstem Gold fordert ein Schild «Alles allen». Hinter dem Lkw stellen sich in Westerland am Samstag mehrere Hundert Demonstrierende auf, die zum Grossteil mit dem 9-Euro-Ticket angereist sind.
«Uns leuchtet es nicht ein, warum die Reichen die schönen Orte dieser Welt für sich haben sollten», erklärt Toni vom Bündnis «Wer hat, der gibt» aus Hamburg. Die Aktivisten kritisieren, dass sich die Reichen hier auf Sylt vor ihrer gesellschaftlichen Verantwortung drücken würden. «Eigentlich brennt ja gerade die Hütte: Krieg, Inflation, Krise. Dabei ist ja genug Geld da, wie man hier sieht. Und deshalb sollte es auch hier geholt werden», meint die Aktivistin. «Wir sind heute hier, weil Sylt und seine Luxus-Touris für all das stehen, wogegen wir kämpfen.»
Sylt gilt als Insel der Reichen. Dabei ist die Insel vielfältig, erklärt der Bürgermeister Nikolas Häckel auf Facebook. «Auf Sylt gibt es Obdachlosigkeit und Altersarmut. Viele Sylter erhalten Wohngeld oder andere Sozialleistungen», so Häckel. Und auch der Urlaub auf Sylt muss nicht mit Privatjet zum 5-Sterne «Golf & Spa-Ressort» führen. Wer hier Urlaub macht, kann die Insel mit seinen vier Golfplätzen und 12'000 Strandkörben geniessen. Ob Natur, Wellness oder Sport, ob Matjes, Austern oder Deutschlands nördlichster Wein: «Eine Insel, viele Möglichkeiten», wie Sylt Marketing es beschreibt. Auf die knapp 770'000 Urlaubsgäste kommen hier jährlich etwa 750'000 Fischbrötchen.
Schon beim Start der Demo stehen dutzende Passanten in Westerland, die die Demo mit ihren Smartphones filmen und irritiert schauen. Beantwortet wird das Filmen mit Mittelfingern und Sprechchören. «Wir enteignen euch alle», hört man die Aktivistinnen und Aktivisten rufen.
Aktuell startet in Westerland auf #Sylt die Demonstration von @WerHatDerGibt. Die Aktivist:innen wollen gemeinsam nach Kampen ziehen, um unter dem Motto #SyltEntern für Umverteilung zu demonstrieren und den "Reichen ihre Ferien zu versauen"#Sylt1607 pic.twitter.com/rlCF4ml7Pr
— Jannis Große (@jannisgrosse) July 16, 2022
Reichtum hat auf Sylt seinen Platz. Wer in der Fussgängerzone in Westerland einkaufen geht, legt in einigen Läden gut 319 Euro für einen Schal auf den Tisch. Eine Woche in einer Ferienwohnung in Kampen kann bis zu 5600 Euro kosten. Die Gemeinde mit knapp über 500 Einwohnern gehört seit Jahren zu den teuersten Wohngegenden Deutschlands. Und genau dort soll die Demo von «Wer hat, der gibt» enden.
«Kampen steht für uns sinnbildlich für all das, wogegen wir auch in der Vergangenheit demonstriert haben», erklärt Toni. Im September 2020 zog das Bündnis «Wer hat, der gibt» mit einer Demo durch Hamburg-Harvestehude und -Rotherbaum, 2021 zogen rund 1000 Menschen durch den Ortsteil Blankenese. Auch am 1. Mai dieses Jahres organisierte «Wer hat, der gibt» eine Demonstration in Hamburg. Unter dem Motto «Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten» zogen rund 2000 linke Demonstranten durch die Hafencity.
«Das alles sind Ballungsräume von Reichtum, die irgendwie auch Gated Communities für uns darstellen», sagt Toni. «Wir wollen zumindest einen Tag in diese Communities gehen.» Die Resonanz der Menschen würde zeigen, wie wichtig es sei, dort präsent zu sein, erklärt die Aktivistin. «Man sieht, dass man die Leute stört – mit seiner blossen Anwesenheit.»
Hier auf der Insel würde die soziale Ungleichheit besonders hervortreten. «Es gibt Menschen, die hier Feriendomizile haben und zweimal im Jahr herkommen. Wohingegen Menschen, die hier geboren sind, auf dem Festland leben müssen und zum Arbeiten in prekären Jobs auf die Insel pendeln», meint Toni.
Auf einem Transparent am Lautsprecherwagen steht auch bei diesem Protestzug: «Wir können uns die Reichen nicht mehr leisten». Die Aktivisten skandieren «Luxus für alle, sonst gibt's Krawalle». Die Krawalle bleiben aber aus. Nur einmal wird ein roter Rauchtopf gezündet, weshalb die Polizei die Demo kurz stoppt.
Ohne Zwischenfälle führt der Demozug dann vorbei an Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten, Richtung Norden. Immer wieder stehen Urlauber und Anwohner in Seitenstrassen, Hofeinfahrten und Bushaltestellen und beobachten den Protest. Den Wenigsten scheint zu passen, was sie sehen. «Asoziales Pack», meckert eine filmende Frau am Strassenrand. «Hätten wir doch unser Weinglas mitnehmen sollen», kommentiert ein Urlauber in der Hoffnung, mit dem Scherz bei den anderen Urlaubern für einen Lacher zu sorgen.
Die Demonstrierenden fordern Umverteilung. Sie wollen Reichtum konsequent besteuern und Entlastungen für den ärmeren Teil der Bevölkerung. Konkret heisst das: Wiedereinführung der Vermögenssteuer, Erhöhung des Spitzensteuersatzes, Anheben des Mindestlohns, Entprivatisierung der Gesundheitsversorgung und öffentliche Investitionen in kommunale Infrastruktur wie Wohnungen, Bildung, Mobilität sowie in Klimaschutz.
Das Grundproblem in ihren Augen ist die ungleiche Verteilung von Vermögen in Deutschland. Denn die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt nur rund 1.3 Prozent des Gesamtvermögens, wohingegen die reichsten zehn Prozent über zwei Drittel des Vermögens verfügen. Alleine die reichsten 0.1 Prozent besitzen mehr als 20.4 Prozent des Gesamtvermögens. ( Zahlen des DIW Berlin aus 2019).
«Während wir angehalten werden, im Winter zu frieren, feiert Lindner eine fette Party auf Sylt. Während viele Menschen drohen, durch die Preiserhöhungen in Armut zu rutschen, knüppelt die Polizei am Freitag die streikenden Hafenarbeiter nieder», wettert ein Aktivist in einer Rede.
Über einen langen Feldweg führt die Route schliesslich nach Kampen. Die Stimmung ist ausgelassen und friedlich. Viele der Demonstrierenden haben das ein oder andere Dosenbier getrunken und skandieren voller Emotion: «Miete verweigern, Kündigung ins Klo, Häuser besetzen sowieso». Verkäufer, die neugierig aus ihren Läden schauen, verschwinden schnell in den Boutiquen und schliessen hinter sich die Türen als die Demo näher kommt. Die Polizei sichert die Gebäude mit Einsatzkräften ab – zur Erleichterung der Betreiber.
«Wir wollen die Gesellschaftsform überwinden, bei der ein paar Menschen gut leben – auf Kosten der Vielen», macht ein Aktivist bei der Abschlusskundgebung deutlich. «Wir wollen das gute Leben für alle oder anders gesagt: ein Ende der kapitalistischen Gesellschaftsordnung». Auf der anderen Strassenseite steht ein Rinderfilet für 52 Euro auf der Speisekarte eines Restaurants.
Knapp zwei Stunden nach Beginn löst sich die Demo in Kampen auf. Schwarz gekleidete Demonstranten und Punks teilen sich den Gehweg jetzt mit Menschen, die ihren Pullover um die Schultern gebunden haben oder mit «Louis Vuitton»-Tüte spazieren gehen. Eingequetscht geht es für die Demo-Teilnehmer im Linienbus zurück nach Westerland, wo ein Konzert den Tag abschliessen soll. Während die Sonne langsam über dem Rathaus untergeht, pogt die Menge zur Musik der drei Punkbands Raest, Enemigx‘s Del Enemigo und Mülheim Asozial.
=> Schlagzeile:
Zu wenig Fischbrötchen für alle Touristen auf Sylt!
Ich habe es so satt, zu hören wogegen man ist und was man zerstören soll! Ich möchte endlich wieder mal Demos erleben, die kreativ sind und aufzeigen wofür man kämpft. Die Klimajugend bot da gute Ansätze, weil die nach Lösungen suchte. Wer aber nur Sündenböcke sucht, ist in Tat und Wahrheit nicht besser als ihre Gegner.