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Wie der Terror von München noch bis heute nachwirkt

«Bewaffnete standen 20 Meter entfernt» – wie der Terror von München bis heute nachwirkt

Vor genau 50 Jahren drangen palästinensische Terroristen in das Olympia-Quartier der israelischen Delegation ein. Die Behörden reagierten überfordert, das Geiseldrama endete in einem Blutbad. Bis heute sind viele Fragen ungeklärt - ein Augenzeuge erinnert sich.
05.09.2022, 10:28
Christoph Reichmuth, Berlin / ch media
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Picture dated September 5, 1972 of then German Interior Minister Hans-Dietrich Genscher (L) with other unidentified German officials listening to the demands of an unidentified Palestinian kidnapper ( ...
Der damalige deutsche Innenminister Hans-Dietrich Genscher mit anderen deutschen Beamten während des Attentats. Bild: keystone

Es ist kurz nach halb sechs Uhr morgens, Dienstag, 5. September 1972. Klaus Langhoff, der Kapitän der DDR-Handballnationalmannschaft, liegt noch im Bett. Um 11 steht das so wichtige Spiel gegen die Auswahl der UdSSR an. Ein Sieg gegen den grossen Bruder aus der Sowjetunion bringt Langhoff und seine Kollegen auf Medaillenkurs.

Dass er an diesem Morgen von einem Funktionär so früh geweckt wird, erstaunt den damals 32-Jährigen. «Bleibt in euren Zimmern, Fenster zu!», ruft der Funktionär aufgeregt. Langhoff hat ein Einzelzimmer, teilt sich aber mit seinen Teamkollegen eine Wohnung im olympischen Dorf von München. Er weiss nicht, was los ist. «Keiner geht auf den Balkon!»

«Natürlich haben wir dann erst recht aus den Fenstern geschaut», erinnert sich Langhoff. Der heute 82-Jährige lebt zurückgezogen in einem von Tourismus geprägten ehemaligen Fischerdorf direkt an den Ufern der Ostsee, er blickt auf eine erfolgreiche Handballkarriere als mehrmaliger Welt- und Vizeweltmeister sowohl als Spieler und als später auch als Trainer zurück.

«Ich sah auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes einen Mann mit Sturmhaube und Kalaschnikow. Zwei Bewaffnete standen auf dem Balkon, keine 20 Meter von uns entfernt. Der Anführer war auch zu sehen, der hielt eine Handgranate in seinen Händen.»

Vor dem Eingang zum Gebäude gegenüber liegt ein toter, blutüberströmter Körper. Es ist die Leiche von Mosche Weinberg, Trainer der israelischen Ringer-Auswahl. Langhoff versteht sofort, dass sich hier vor seinen Augen ein Terrorakt abspielt. Langhoff wird an diesem Tag Zeuge eines Attentats, das als trauriges Kapitel in die Geschichte von Olympia eingehen und das in den späten Stunden dieses Dienstages in einem ungeheuerlichen Drama enden enden wird, das bis heute nicht aufgearbeitet ist.

Als Athleten getarnt ins Olympiadorf geklettert

Die Olympischen Sommerspiele 1972 von München sind an diesem 5. September schon zehn Tage in Gang. Die Stimmung im Dorf und an den Wettkämpfen wird als herausragend beschrieben, München hat die «heiteren Spiele» ausgerufen.

Die über 7000 Athletinnen und Athleten sind im olympischen Dorf nahe beisammen, die Wege zu den Sportveranstaltungen sind kurz. «Diese Spiele sollten anders sein als die Olympischen Sommerspiele von 1936 - München setzte bewusst auf eine fröhliche, weltoffene Inszenierung», sagt Roman Deininger, Autor des Buches «Die Spiele des Jahrhunderts» (dtv-Verlag), das sich eingehend mit den Hintergründen des Olympia-Attentats und den Folgen für die damalige BRD auseinandersetzt.

«Deutschland wollte endlich aus dem langen Schatten der Nazi-Zeit heraustreten.»

Die Polizeikräfte in München patrouillieren ohne Waffen durch das Dorf, die Sicherheitsbestimmungen sind bewusst locker gehalten. «Die Deutschen sind 1972 an ihren eigenen, besten Absichten gescheitert», resümiert der Autor.

Die laschen Sicherheitsvorkehrungen von München erleichtert den acht Mitgliedern der palästinensischen Terrororganisation «Schwarzer September», kurz nach vier Uhr morgens über den kaum zwei Meter hohen Zaun in das olympische Dorf zu klettern. Sie werden bei ihrer Klettertour beobachtet, doch man hält sie für spät aus dem Münchner Nachtleben heimkehrende Sportler. Gegen 04.35 Uhr dringen sie in das Appartement der israelischen Olympiamannschaft ein.

Der Ringer-Trainer Mosche Weinberg und der Gewichtheber Josef Romano werden gleich erschossen. Weinberg ist sofort tot, Romano stirbt wenig später an den Folgen seiner schweren Verletzungen, weil ihm Hilfe versagt wird. Neun überlebende israelische Sportler sind nun ihrem Schicksal ausgeliefert, Geiseln von palästinensischen Terroristen.

Die Terroristen verlangen die Freilassung von über 230 in israelischer Haft einsitzenden palästinensischen Terroristen sowie der RAF-Mitglieder Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus deutscher Haft. Sie fordern zudem freies Geleit für sich und die Geiseln. In einem Flugzeug sollten sie in eine arabische Hauptstadt ausgeflogen werden. Sie drohen mit Erschiessung der Geiseln, sollten die Bedingungen nicht erfüllt werden.

A member of the Arab Commando group which seized members of the Israeli Olympic Team at their quarters at the Munich Olympic Village September 5, 1972 appears with a hood over his face on the balcony  ...
Ein Mitglied der arabischen Kommandogruppe steht auf dem Balkon des Gebäudes im olympischen Dorfs.Bild: AP

Die deutschen Behörden sind überfordert, die Münchner Polizei ist auf ein solches Ereignis nicht vorbereitet. Funktionäre und Politiker, darunter der damalige Innen- und spätere Aussenminister Hans-Dietrich Genscher, bieten sich als Ersatzgeiseln an. Auf die Forderung der Terroristen können die Behörden nicht eingehen. Die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir hat deutlich gemacht, dass sich Israel nicht erpressen lasse und die Palästinenser nicht freilassen werde.

Es beginnen bange Stunden des Wartens, immer wieder verstreichen Ultimaten. Das Spiel gegen zwischen der DDR und der Sowjetunion ist auf den nächsten Tag verschoben, Klaus Langhoff sitzt gebannt vor dem TV-Bildschirm im olympischen Quartier. Ein US-Sender berichtet Live von der Tragödie. Die Terroristen im Gebäude gegenüber sehen über die Live-Bilder, wie sich Scharfschützen in Stellung bringen.

Die Polizei muss die Befreiungsaktion abbrechen. Irgendwann wagt sich Langhoff doch auf den Balkon seines Appartements. Er erinnert sich:

«Mit einem Mal hat uns einer der Terroristen freundlich zugewinkt.»

Die Palästinenser wissen, dass Langhoff und seine Kollegen Sportler der DDR sind. Die DDR und die palästinensische Befreiungsorganisation PLO waren damals eng miteinander verbunden, die DDR-Staatsführung sah im Staate Israel einen Vorposten des amerikanischen Imperialismus und in den arabischen Staaten Verbündete, da diese den sozialistischen deutschen Staat als eigenständig anerkannt hatten.

«Ich fasste Mut und begann zu fotografieren.» Langhoff gelingen Bilder für die Ewigkeit, kaum eine Dokumentation über die damaligen Ereignisse kommt ohne Langhoffs Fotos aus.

Es ist inzwischen Abend geworden in München, eine Katastrophe bahnt sich an. Die Behörden haben sich mit den Terroristen geeinigt. Sie sollen mit Helikoptern zum Militärflugplatz Fürstenfeldbruck ausgeflogen werden, wo eine vollgetankte Lufthansa-Maschine bereitsteht, um Geiseln und Terroristen auszufliegen. In Fürstenfeldbruck läuft die Befreiungsaktion komplett aus dem Ruder.

On the alert, West German policemen in sportswear with bulletproof vests underneath and armed with machine guns take position on the roof of the Munich Olympic Village building where armed Palestinian ...
Polizisten platzieren sich auf dem Dach des Flughafengebäudes.Bild: keystone

Lediglich fünf Streifenpolizisten, keine gelernten Scharfschützen, sind auf dem Dach des Flughafengebäudes platziert. Die Polizei hat es zudem versäumt, gepanzerte Fahrzeuge bereitzustellen. Die beiden Helikopter landen um 22:29 Uhr bei Flutlicht so ungünstig auf dem Flugplatz, dass die fünf Scharfschützen nun im gegenseitigen Schussfeld liegen. Die Schützen warten ohne Funkkontakt und ohne Zielabsprache auf den Schiessbefehl.

Um 23:35 Uhr wird das Flutlicht abgeschaltet, die Polizei eröffnet in der Dunkelheit das Feuer. Die Polizei schiesst im Dauerfeuer, die Terroristen feuern zurück, setzen Handgranaten ein. Weit nach Mitternacht endet die Aktion in einem Fiasko: Alle neun israelischen Geiseln sterben, fünf der acht Terroristen werden erschossen, drei von ihnen festgenommen. Ein Polizist stirbt im Kugelhagel.

Die Olympischen Spiele werden für einen halben Tag unterbrochen, nach einer Trauerfeier im Olympiastadion gibt IOC-Präsident nach seinem berühmt gewordenen Ausspruch «The Games must go on» die Spiele wieder frei. Keine zwei Monate später, am 29. Oktober, entführt ein palästinensisches Kommando die Lufthansa Maschine «Kiel» mit zwölf Passagieren an Bord. Die deutschen Behörden verhandeln kaum und lassen die drei inhaftierten Terroristen frei.

Bis heute gibt es Gerüchte, wonach die Entführung zwischen der BRD und den Palästinensern abgesprochen war, die BRD sollte als Bedingung für die Freilassung aus dem Visier der Terroristen geraten. Die Terroranschläge sind so bis heute juristisch nie aufgearbeitet worden. Auch die Rolle einer rechtsextremen Zelle aus Deutschland, die den Terroristen bei der Planung des Anschlages half, bleibt in weiten Teilen schleierhaft.

Zwei der drei Attentäter werden später bei Vergeltungsaktionen von israelischen Sondereinheiten getötet. In Deutschland wird als Konsequenz aus dem Polizeiversagen das Anti-Terror-Spezialeinsatzkommando GSG9 gegründet, das 1977 bei der Befreiung der durch Palästinenser entführten «Landshut» Maschine in Mogadischu erfolgreich zum Einsatz kommen soll.

Vor der Gedenkfeier in diesem Jahr bleiben viele Fragen offen - welche Rolle spielten deutsche Rechtsextremisten im Vorfeld des Terrors? Was steckt hinter den Gerüchten um die inszenierte Entführung der Lufthansa-Maschine im Oktober 1972? Wie konnten sich die Organisatoren angesichts des in den 1970er Jahren vorherrschenden Terrorismus durch die RAF oder palästinensische Kommandos bei Sicherheitsfragen so naiv verhalten?

The Olympic flag, foreground, and flags of participating nations are flown at half-staff during a commemoration ceremony for the victims of the Munich Olympic massacre at the Munich, southern Germany, ...
Nach einer Trauerfeier im Olympiastadion gehen die Spieler 1972 weiter. Bild: AP

«Die mangelnde Aufarbeitung des Terrors ist das zweite Versagen der Behörde, nachdem die Gefahr des Terrors vor den Spielen unterschätzt worden ist», sagt Autor Roman Deininger.

«Es gab keinen Untersuchungsausschuss, weil die Politik das eigene Scheitern nicht offenbaren wollte.»

Immerhin signalisiert die Bundesregierung heute, eine Historikerkommission einzusetzen zu wollen, um das Drama doch noch aufzuarbeiten. Die fröhlichen Spiele von München endeten mit der Ermordung von elf Juden auf deutschem Boden. Deininger: «Deutschland wurde an diesem 5. September zurückgeworfen ins Jahr 1945.»

Vergessen, was damals geschehen ist, kann auch Klaus Langhoff nicht. Er wird bei der Gedenkveranstaltung in München nicht teilnehmen - wie auch die israelischen Angehörigen nicht, die aus Protest über die mangelnde Aufklärung der Veranstaltung fernbleiben werden. «Die Bilder von damals verfolgen mich bis heute. An diesem Jahrestag kommt alles wieder hoch», sagt der 82-Jährige.

Die Enttäuschung über die Niederlage im entscheidenden Spiel vom 6. September 1972 gegen die UdSSR ist längst verflogen. Viel mehr beschäftigt Langhoff sein Verhältnis zu Israel. Denn er und seine Kolleginnen und Kollegen der DDR-Auswahl durften 1972 nicht an der Gedenkveranstaltung für die Opfer im Olympiastadion teilnehmen.

«Ich bedauere zutiefst, dass uns die Politik von dieser Gedenkveranstaltung ferngehalten hat. Das war nicht würdig», sagt Langhoff. Noch einmal wolle er nach Israel reisen, sagt er mehrere Male. «Ich habe es bis zum heutigen Tag nie geschafft.» Und, fügt er an:

«Ich habe mich bis heute nicht getraut, mit Sportlern aus Israel über damals zu sprechen.»

Es scheint, als ob Klaus Langhoff den Opfern von München die Ehre eines letzten Grusses doch noch erweisen möchte. (aargauerzeitung.ch)

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