Das schrille Klingeln ist normalerweise das Signal, dass die Abgeordneten ins Plenum kommen sollen, dieses Mal eilen sie zu den Aufzügen und fahren in den 3. Stock, auf die Fraktionsebene. Noch nicht einmal 100 Tage regiert diese Koalition und schon steckt sie in einer schier ausweglosen Krise, wegen der Unions-Seite.
Die Situation ist an Dramatik kaum zu überbieten: Gleichzeitig treffen sich die CDU- und die CSU-Abgeordneten, die eigentlich eine gemeinsame Fraktion bilden, zu getrennten Sondersitzungen. Die CDU mit Kanzlerin Angela Merkel, die CSU mit Innenminister Horst Seehofer.
Und dann kommt diese Nachricht aus der CSU-Sitzung: Der Innenminister droht der Kanzlerin mit einem Alleingang. Sollte es keine Einigung über die Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze geben, will Seehofer notfalls per Ministerentscheid handeln - also die Zurückweisungen von Flüchtlingen kraft seines Amtes anordnen - ohne Zustimmung von Merkel.
Oder besser gesagt wohl wissend, dass sie es kategorisch ablehnt. Schon am Montag will sich der CSU-Chef dafür den Auftrag des CSU-Parteivorstands holen.
Spätestens jetzt ist klar, dass der Streit zwischen den beiden christdemokratischen Schwesterparteien nun endgültig zu eskalieren droht. Ein Alleingang eines Ministers gegen den erklärten Willen der Kanzlerin würde wohl zwangsläufig das Aus für die schwarz-rote Regierung bedeuten.
Dass es so weit nicht kommt, darum hatten Merkel und Seehofer am Mittwochabend drei Stunden im Kanzleramt lang gerungen. Mit dabei: die Ministerpräsidenten aus Hessen und Bayern, Volker Bouffier (CDU) und Markus Söder (CSU). Um kurz vor Mitternacht geht es nicht mehr weiter. Wegen gegenseitiger Vorhaltungen dreht sich das Gespräch im Kreis.
Merkel unterbreitet einen Kompromissvorschlag: Sie will schon beim EU-Gipfel in zwei Wochen bilaterale Verträge mit EU-Partnern erreichen, um die Zurückweisung und Rückführung von Ausländern zu ermöglichen, die in diesen Ländern bereits Asylanträge gestellt haben. Die CSU aber bleibt hart, ihr reicht das nicht.
Am Donnerstag sammeln beide Seiten ihre Truppen: Erst berät das CDU-Präsidium - und stellt sich hinter die Kanzlerin. Man unterstütze Merkels Initiative für bilaterale Vereinbarungen mit EU-Partnern, um «unabgestimmte, einseitige Lösungen» zu verhindern.
Nur eines bietet die CDU an: dass Personen, deren Asylantrag in Deutschland bereits abgelehnt wurde, bei neuen Einreiseversuchen zurückgewiesen werden.
Das aber reicht der CSU noch nicht. Sie will auch die Menschen zurückweisen, die bereits in anderen europäischen Ländern als Asylbewerber registriert sind. «Bei der Zuwanderung dürfen wir keine halben Sachen mehr machen», kontert Söder das CDU-Kompromissangebot.
Doch Merkel wirbt auch in der Sondersitzung der CDU-Abgeordneten unbeirrt für ihren Kurs, bittet um Vertrauen bis zum EU-Gipfel am 28. und 29. Juni in Brüssel. Von den Abgeordneten habe sie «überwiegend» Unterstützung erhalten, heisst es von Teilnehmern. Man solle ihr die 14 Tage bis zum EU-Gipfel geben.
Allerdings: Merkel-Kritiker Jens Spahn wirbt in der Sitzung offen für die CSU-Position, für die Zurückweisungen von Flüchtlingen an der deutschen Grenze. «Er zündelt», berichtet ein CDU-Bundestagsabgeordneter von drinnen. Die Frage ist nun: Wie lange bekommt Merkel noch Schonfrist? Zwei Wochen, wie die CDU-Fraktion offenbar mehrheitlich will. Oder keine mehr?
Für Merkel sind es existenziell schwierige Tage: Erst düpierte Donald Trump sie mit seinem Platzenlassen der Communiqués des G7-Gipfels. Keine Woche später steht plötzlich ihre ganze politische Zukunft auf dem Spiel, wegen eines anderen Mannes, der ihr in Sachen Sturheit in nichts nach steht: Horst Seehofer.
Das Verhältnis der beiden Alphatiere ist zerrüttet wie lange nicht. Sie einen im Streit nur noch die fehlenden Alternativen und das dann drohende politische Aus.
Für Merkel geht es beim Asylstreit um einen zentralen Kern ihrer Politik, den sie in den vergangenen Jahren so vehement verteidigt hat. Doch auch für die CSU, für Seehofer, Söder & Co., geht es um die eigene Glaubwürdigkeit. Man könne jetzt keinesfalls mehr nachgeben, heisst es quasi unisono sowohl aus der Landesgruppe im Bundestag als auch aus der CSU-Landtagsfraktion in Bayern.
Die CSU fürchtet die bayerische Landtagswahl am 14. Oktober, wo ihr der Verlust der absoluten Mehrheit daheim droht. Die grosse Angst ist, dass ein Nachgeben gegenüber Merkel zum Desaster führen würde - in Umfragen liegen die Christsozialen nur knapp über der 40-Prozent-Marke.
Die CSU sieht sich deshalb unter Zugzwang - auch wegen der AfD, wegen des Bamf-Skandals, wegen mutmasslich von Asylbewerbern verübter Morde wie zuletzt an der 14-jährigen Susanna. Sie sieht die Bevölkerung hinter sich.
Paradoxerweise ist der wichtigste Verbündete Merkels aktuell die SPD - die auch keine Zurückweisungen direkt an der Grenze will, für vernünftige Asylverfahren soll es ja Ankerzentren geben.
Als um 12.17 Uhr die Eilmeldung mit Seehofers Alleingang-Drohung kommt, liest Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann diese baff erstaunt. Droht ein Koalitionsbruch? Einen neuen Wahlkampf will bei der SPD keiner. Die AfD sitzt der bis auf 16 Prozent abgerutschten Partei im Nacken. Da regiert man doch lieber und hofft auf ein Wunder.
Seehofers Drohung ist jedenfalls seit Donnerstag, 12.17 Uhr, im Raum. Was, wenn es keine schnelle Einigung mit Merkel gibt, was, wenn er seine Drohung mit Zustimmung des CSU-Vorstands Anfang kommender Woche wahr macht und im Alleingang Zurückweisungen anordnet?
Man sei mit der Geduld mit Merkel am Ende, heisst es aus der CSU schon seit Mittwoch warnend. Weite Teile der CSU scheinen gewillt, um der eigenen Glaubwürdigkeit willen den Koalitionsbruch in Kauf zu nehmen. (sda/dpa)