Beim Gedanken an französische Überseegebiete denkt man schnell an die Karibik (z.B. Guadeloupe), die Südsee (z.B. Tahiti) oder den Indischen Ozean (z.B. La Réunion). Doch drei fast vergessene Inseln mit rund 7000 Einwohnern und ca. der Landmasse des Kantons Zug gehören weit oben im Nordatlantik auch dazu: St-Pierre und Miquelon.
Der Archipel erhielt schon viele Spitznamen: «Ein kleines Stück Europa in Nordamerika», «die letzte Bastion Frankreichs in Nordamerika», oder «eine der aussergewöhnlichsten geopolitischen Besonderheiten der Welt». Und die Meerenge zwischen den Inseln Langlade und St-Pierre war früher unter «Gueule d'Enfer» («Mund zur Hölle») bekannt, weil dort unzählige Schiffe sanken.
Eigentlich gibt es auf den Inseln nur zwei Ortschaften: St-Pierre und Miquelon. Obwohl das Dorf Miquelon rund zehnmal kleiner ist als St-Pierre, wäre die nördlichere Insel geeigneter für eine Zivilisation gewesen – wäre da nicht die Bucht von St-Pierre mit dem perfekten natürlichen Hafen.
2018 lebten auf St-Pierre und Miquelon zwei Schweizer:
Eine davon ist Claire-Lise Suardet. Sie kommt ursprünglich aus Féchy VD, ist 46 und hörte das erste Mal von den Inseln, weil Briefmarken von dort so bekannt sind. Das ist ihre Geschichte.
Claire-Lise Suardet, ich muss zugeben: Bis vor Kurzem hatte ich noch nie von St-Pierre und Miquelon gehört. Können Sie mir eine Schnellbleiche geben?
Claire-Lise Suardet: St-Pierre und Miquelon gehört zu Frankreich. Es liegt am Südende des kanadischen Neufundlands. Das Überseegebiet besteht aus drei Inseln: St-Pierre (Anm.d.Red: flächenmässig so gross wie die Stadt Zug) sowie Miquelon und Langlade (Anm.d.Red: flächenmässig so gross wie der Kanton Zug). Die letzten beiden Inseln sind mittlerweile durch eine enge Landbrücke verbunden. Praktisch alle knapp 7000 Menschen leben in St-Pierre, ein Dorf mit rund 700 Einwohnern gibt's auf Miquelon, Langlade ist weitgehend unbewohnt.
Und wie sieht's mit der Temperatur aus?
Die jährliche Durchschnittstemperatur beträgt etwa 5 Grad Celsius. Aber die Winter sind – gemessen an der Lage – mit einem Tagesschnitt von knapp unter Null mild.
Was bietet die Flora und Fauna?
Das Land ist eher karg, die höchste Erhebung geht auf etwas über 200 Meter. Grosse Bäume gibt es nicht, auf St-Pierre stehen einige vom Wind gebeutelte Tannen. Bekannt ist die «Plate Bière» (Moltebeere). Aus ihr machen wir Konfitüre oder auch Alkohol.
Was die Fauna betrifft: Viele Meeresvögel leben hier, grosse Säugetiere gibt es in der Wildnis nicht. Das Meer um die Insel gehörte einst zu den fischreichsten Gebieten der Erde – vor allem Kabeljau. Das hat sich leider sehr geändert. Robben, Wale und Delfine sind zu sehen.
Von St-Pierre und Miquelon haben wohl die wenigsten schon gehört. Wann nahmen Sie den Archipel erstmals wahr?
Uff, das ist lange her. Ich interessierte mich für Philatelie. Die Briefmarken von St-Pierre und Miquelon sind sehr speziell und schön. Die sind jedem Sammler ein Begriff.
Briefmarken brachten Sie auf die Insel?
Nein, die Liebe. Ich lernte meinen heutigen Partner online kennen. Er ist hier aufgewachsen.
Erzählen Sie.
Nun, wir lernten uns kennen und nach einiger Zeit reiste ich im März 2004 für drei Wochen nach St-Pierre. Überall lag Schnee, es war wunderschön. Im Juni kam ich wieder. Da war der Schnee weg (lacht), aber es gefiel mir noch immer sehr gut. Diese Ruhe packte mich. Ich verliebte mich in den Ort.
Wie ging es weiter?
Mein Partner hat zwei Kinder, da war es relativ schnell klar, dass ich zu ihm ziehen würde, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Ich kehrte dann nochmals in die Schweiz zurück, kündigte meinen Job, bereitete meine Abreise vor. Im April 2005 wanderte ich aus. Seither lebe ich hier.
Wie war das?
Der Umzug an sich war einfach. Aber die ersten zwei Monate waren hart. Ich musste mich zuerst damit abfinden, auf einer kleinen Insel zu sein. Ich konnte nicht einfach irgendwo anders hin. Das hatte ich so nicht erwartet. Aber danach war's gut – und das ist es noch immer (lacht).
Fühlt es sich nicht so an, als sei man auf der Insel «eingesperrt»?
Vielleicht, ja. Mir macht das überhaupt nichts aus. Aber klar: In der Freizeit sieht man immer wieder die gleichen Leute. Das Freizeitangebot ist allerdings ausreichend. Es ist auch immer mal wieder was los, wie beispielsweise «Les 25 km de Miquelon», ein Rennen über 25 Kilometer.
Wollen Sie nicht wieder zurück in die Schweiz?
Nein, das will ich nicht (überlegt). Wenn man mal hier ist, will man nicht mehr zurück. (lacht). Das Leben verläuft hier anders. Es ist ein ganz anderer Groove. Ich mag es hier. Wenn ich in die Ferien reise, freue ich mich immer wieder, nach St-Pierre zurückzukehren.
Wie oft sind Sie noch in der Schweiz?
Ungefähr alle drei Jahre.
Haben Sie noch Familie in der Schweiz?
Ja, meine ganze Familie lebt noch in der Schweiz. Ich bin in Féchy, einem Weinbauerndorf rund 100 Meter über dem Genfersee zwischen Morges und Nyon, aufgewachsen.
Und wo leben Sie heute genau?
Wir haben ein kleines Häuschen knapp ausserhalb der Stadt. Aber ja, St-Pierre ist ja klein. Man ist schnell überall.
Es leben dort nur 6000 Einwohner. Ich nehme an, man kennt sich.
Ja, das kann man so sagen. Man fällt hier auch schnell auf, wenn man von woanders herkommt (lacht).
Aber man erhält auf St-Pierre alles?
Ja, klar. Wir haben diverse Läden, auch ein kleines Spital und ein Gesundheitszentrum. Erst bei schlimmeren Fällen müsste man nach St. John's auf Neufundland.
Wie eng ist die Verbindung zum kanadischen Neufundland mit St. John's?
Neufundland ist mit dem Boot in einer Stunde einfach zu erreichen. Einige hier haben dort ein Ferienhaus, die gehen dann natürlich öfter. Wir sind nicht oft dort. St. John's ist mit dem Flugzeug in 90 Minuten gut zu erreichen.
St-Pierre und Miquelon gehört zu Frankreich. Fühlt es sich vor Ort auch so an?
In Bezug auf die Dinge, die ich haben kann: ja. Es gibt hier beispielsweise Croissants und Baguettes wie in Frankreich, wir bezahlen mit Euros. Aber die Einstellung zum Leben, die ist ganz anders.
Wie verläuft ein typischer Tag eines normalen Einwohners?
Das ist ziemlich klar geregelt. Man fängt gegen 8.30 Uhr an zu arbeiten. Am Mittag gehen alle heim, um zu essen. Kantinen oder so existieren nicht. Am Nachmittag wird von 13.30 bis 17.30 Uhr gearbeitet – ausser natürlich im Spital und ähnlichen Angeboten. Am Radio gibt es um 12.30 Uhr Nachrichten, im TV um 19.30 Uhr. Dazu gibt's eine kleine gedruckte Zeitung, die einmal im Monat erscheint.
Und was fehlt Ihnen aus der Schweiz?
Hach, das Essen natürlich. Eine richtig feine Waadtländer Bratwurst. So Sachen halt.
Sie sind in Féchy aufgewachsen, mit freiem Blick auf die Alpen, hinter Ihnen der Jura. Fehlen Ihnen die Berge nicht?
Natürlich. Ich würde gerne Skifahren gehen.
Die Berge sind in meinem Kopf. Obwohl: Wir haben hier ja auch kleine Berge. Der Trépied ist zwar nur etwas über 200 Meter hoch. Aber der geht auf dem Meeresspiegel los. Da kann es dann auch eindrückliche Felswände haben.
Welche Traditionen haben Sie sich bewahrt?
Ich feiere weiterhin den 1. August. Raclette essen können wir hier auch. Ansonsten bin ich sicher pünktlicher als die St-Pierrais. Die Leute hier kennen unsere «quart d'heure vaudois» (in etwa: die akademische Viertelstunde Verspätung) auf jeden Fall auch (lacht).
Was sollte die Schweiz haben, was es in St-Pierre gibt?
Das «Fair play», die Ruhe und die Gelassenheit. Zum Beispiel im Verkehr geht man hier rücksichtsvoll miteinander um. In der Schweiz geht immer alles schneller. Man schaut immer mehr auf sich. Hier ist die Solidarität noch viel grösser. Die Leute sind einfach nett. Man hilft sich. Beispielsweise, wenn jemand im Haus etwas flicken muss, ist immer eine helfende Hand da oder jemand, der dir einen Tipp gibt.
Und was sollte St-Pierre von der Schweiz haben?
Man kann hier nicht Ski fahren. Wir haben zwar Schnee und kleine Hügel. Aber der Wind ist oft zu stark.
Vom vielen Wind habe ich viel gelesen, zudem von andauerndem Nebel und Frosttage während einem Drittel des Jahres. Tönt garstig bei Ihnen ...
Ach, das ist nicht so schlimm. Das Wetter hier ist zwar gewöhnungsbedürftig. Im Winter kann es schon mal –10 Grad Celsius sein und durch den Wind fühlt es sich nochmals 10 Grad kälter an. Aber man kann sich ja entsprechend kleiden. Das Leben geht trotzdem weiter. Im Sommer dagegen kann es auch mal über 20 Grad werden. Diese fühlen sich dann deutlich heisser an.
Dann gehen die Leute im Sommer auch an den Strand?
Nein, das schon nicht. Das Wasser hier im Nordatlantik ist natürlich kalt. Ich war allerdings auch schon drin. Aber das mache ich nicht mehr (lacht).
Gibt es eine spezielle Warnung an besonders kalten Tagen?
An kalten Tagen nicht. Aber bei Sturmwarnungen gibt's verschiedene Alarmstufen. Gelb bedeutet: Die Schüler müssen nicht mehr zur Schule, orange: Niemand geht mehr zur Arbeit. Dann steht das Leben still. Meistens dauert das dann aber nur einen halben Tag. Den letzten solchen Sturm hatten wir im April.
Sieht man eigentlich Eisberge und Polarlichter von St-Pierre aus?
Polarlichter nicht. Aber in den ersten Jahren kam mal ein Eisberg sehr nahe. Das war wunderbar. Vor allem, wenn man das – so wie ich – vorher noch nie gesehen hat. Aber seither sah ich keinen mehr. Das hat allerdings auch mit der Strömung zu tun.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lebt in St-Pierre. Was hat es denn noch auf Miquelon und Langlade?
Miquelon hat ein kleines Dorf mit rund 700 Einwohnern. Sie leben da von der Fischerei. Einmal im Jahr gibt es einen grossartigen Meeresfrüchte-Markt. Auf Langlade stehen vor allem Ferienhäuser.
Das tönt insgesamt nicht nach den grossen Perspektiven für die Jungen. Hat St-Pierre und Miquelon ein Problem mit der Migration von jungen Leuten?
Ja, das gibt es schon. Viele gehen nach Kanada oder Frankreich, um zu studieren. Alle kommen dann natürlich nicht zurück. Die Kinder meines Partners beispielsweise leben mittlerweile in Australien und Frankreich. Es hat hier auch nicht immer Arbeit für alle. Wir haben aktuell rund 200 Arbeitslose, wenn ich mich nicht irre. Allerdings werden teilweise auch Franzosen von der Métropole (Mutterland Frankreich) bevorzugt, was schade ist.
Das tönt nicht nach dem besten Verhältnis zu Frankreich. Sind die Leute stolz, Franzosen zu sein?
In erster Linie sind sie St-Pierrais. Natürlich sind sie auch Franzosen. Aber vor allem St-Pierrais. Das ist wichtig (lacht). Für mich ist es sicher einfacher, Schweizerin zu sein als Französin. Die Leute aus dem Mutterland mag man nicht so – auch wenn wir natürlich viel Unterstützung von Frankreich erhalten.
St-Pierre und Miquelon wurde auch schon als «das wahre Ende der Welt» beschrieben. Wie sieht es dort mit der Versorgung aus?
Alles, was wir aus Frankreich oder Kanada erhalten, landet erst in Halifax (Kanada). Von dort kommt das Containerschiff am Sonntag bei uns an, am Montag wird alles ausgeladen, am Dienstag stehen die frischen Sachen in den Lebensmittelläden. Darum ist der Dienstag eigentlich bei allen der Einkaufstag, dann hat es auch noch alles. In Miquelon beispielsweise ging kürzlich die Bäckerei zu. Jetzt kaufen die Leute dort das Brot am Dienstag und frieren es dann ein für den Rest der Woche.
Das hört sich noch nach einem «grossen Ereignis» an, wenn die Schiffsladung kommt.
Ja, das ist schon so. Man geht an den Quai und schaut, wer kommt. So ein bisschen wie früher, als die Frauen am Hafen auf die Rückkehr ihrer Männer warteten oder auch als Schiffe aus Japan, Portugal oder Spanien wegen des Kabeljaus kamen. Das Gleiche gilt übrigens für den Flughafen. Nicht alle Leute gehen da hin, um jemanden zu verabschieden oder zu empfangen. Man geht manchmal auch einfach hin, um zu sehen, wer kommt und geht.
Ist das Leben teuer?
Ja, das ist es auf jeden Fall. Der Transport, die Zölle – das läppert sich zusammen. Wir importieren viel aus Frankreich oder Kanada.
Was ist billig?
Billig ist es in Kanada (lacht). Aber hier? Hmm, nein. Vielleicht der Wein? Den kriegt man für fünf Euro. Aber das ist in Frankreich auch so.
Die Kriminalität sei sehr klein auf St-Pierre?
Ja, das ist auf jeden Fall so. Es ist sehr ruhig hier. Egal um welche Tageszeit, wir schliessen die Türen der Häuser oder Autos nicht ab.
Früher war St-Pierre für seine Fischgründe bekannt. der Kabeljau bescherte grosse Verkäufe und liess die Wirtschaft florieren. Allerdings wurden die Bestände leergefischt. Wie sieht es aktuell mit der Wirtschaft aus?
Ja, der Kabeljau bringt nicht mehr so viel. Wir hatten und haben viele Diskussionen mit Kanada über Fischquoten. Die Bestände erholen sich langsam. Es gibt aber auch noch andere Fische, die gefangen werden. Die Fischerei bleibt der wichtigste Einkommenszweig.
Wie sieht es mit Tourismus aus?
Wir haben viele kanadische Touristen. St-Pierre bietet vieles: Die Natur natürlich, diverse Spaziergänge, im Sommer mit Booten um die Insel fahren. Und wir haben eine reiche Geschichte. Während der amerikanischen Prohibition (1920 bis 1930 war in den USA die Herstellung, der Transport und Verkauf von Alkohol verboten) florierte der Alkoholschmuggel. Selbst Al Capone zog darum hier ein Geschäft auf und lebte auch einige Zeit auf St-Pierre.
Wie erreiche ich St-Pierre am schnellsten?
Im letzten Sommer flog erstmals ein Flugzeug direkt von Paris nach St-Pierre. Die Sommermonate über geht einmal wöchentlich ein Flug. Dieser dauert nur rund 6:30 Stunden und ist mit etwa 1000 Euro auch noch bezahlbar.