Die katholisch-republikanische Partei Sinn Fein ist erstmals als stärkste Kraft bei der Parlamentswahl in Nordirland hervorgegangen. Das stand nach Auszählung der Stimmen am Sonntagmorgen definitiv fest. Demnach errang die einst als politischer Arm der militanten Organisation IRA geltende Partei 27 der 90 Sitze in der Northern Ireland Assembly.
Sinn Fein löst damit die protestantisch-unionistische DUP als stärkste Kraft ab, die schwere Verluste hinnehmen musste und als zweitstärkste Kraft nur noch auf 25 Sitze kam. Die Alliance Party, die den Streit zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands hinter sich lassen will, errang 17 Mandate - mehr als doppelt so viele wie bei der vergangenen Wahl. Neun Sitze entfielen auf die gemässigt-unionistische UUP. Für die sozialdemokratische SDLP wurden acht Kandidaten gewählt.
Es ist das erste Mal, dass eine Partei stärkste Kraft wird, die sich für die Loslösung des Landesteils von Grossbritannien und eine Vereinigung mit der Republik Irland einsetzt und gilt als symbolischer Wendepunkt in der Geschichte der vor gut 100 Jahren gegründeten Provinz.
Sinn-Fein-Spitzenkandidatin Michelle O'Neill hatte sich bereits am Samstagnachmittag im Blitzlichtgewitter und zu tosendem Applaus ihrer Parteifreunde bei der Verkündung der Ergebnisse in ihrem Wahlkreis Mid Ulster feiern lassen. Ihr steht nun das Recht auf den Posten der Regierungschefin (First Minister) zu. Bislang hatten stets Parteien den Regierungschef gestellt, die eine Beibehaltung der Union mit Grossbritannien befürworten. Die Regierungsbildung könnte sich aber als zäh erweisen.
«Heute ist ein sehr bedeutsamer Tag des Wandels», sagte O'Neill in einer Ansprache. Sie fügte hinzu: «Heute beginnt eine neue Ära, die uns allen die Möglichkeit gibt, Beziehungen in der Gesellschaft neu zu definieren auf der Grundlage von Fairness, Gleichbehandlung sowie von sozialer Gerechtigkeit unabhängig vom sozialem Hintergrund.»
O'Neill rief die anderen Parteien zur Kooperation auf, um eine Regierung zu bilden. Dem als Karfreitagsabkommen bekannten Friedensschluss von 1998 zufolge müssen sich die jeweils grössten Parteien aus beiden konfessionellen Lagern in der ehemaligen Bürgerkriegsregion auf eine Zusammenarbeit in einer Einheitsregierung einigen. Die grösste protestantisch-unionistische Partei DUP (Democratic Unionist Party) kündigte jedoch bereits an, einer Regierung aus Protest gegen den Brexit-Sonderstatus von Nordirland nicht beitreten zu wollen.
Nordirland-Minister Brandon Lewis kündigte Gespräch mit den Parteichefs in den kommenden Tagen an und rief die Parteien auf, «so bald wie möglich eine Regierung zu bilden». Die Menschen in Nordirland hätten eine stabile Regierung verdient.
Das Thema irische Einheit spielte im Wahlkampf hingegen nur eine untergeordnete Rolle. Sinn Fein konzentrierte sich stattdessen auf soziale Themen wie die steigenden Lebenshaltungskosten und Gesundheit. O'Neill kündigte an, sie wolle sich auch als künftige Regierungschefin vorwiegend diesen Themen widmen. Gleichzeitig rief sie zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte über die Einheit Irlands auf. «Lasst uns alle an einem gemeinsamen Plan arbeiten», so O'Neill.
Die DUP erhöhte unterdessen den Druck auf den britischen Premierminister, den Brexit-Vertrag zu brechen. «Boris Johnson hat jetzt die Wahl: entweder das Karfreitagsabkommen oder das Nordirland-Protokoll», sagte der frühere DUP-Fraktionschef im britischen Parlament, Nigel Dodds, der Deutschen Presse-Agentur am Samstag. Sollte Johnson das Protokoll nicht aufkündigen, werde sich seine Partei nicht an einer Einheitsregierung beteiligen, so Dodds weiter.
Der Chef der protestantisch-unionistischen Partei DUP, Jeffrey Donaldson, hat der EU und der britischen Regierung in London vorgeworfen, Nordirland als politischen Spielball zu nutzen.
Die als Nordirland-Protokoll bezeichneten Vereinbarungen über den Sonderstatus der Provinz in dem 2019 zwischen London und Brüssel geschlossenen Brexit-Abkommen seien verantwortlich für stark gestiegene Lebensmittelpreise in Nordirland, sagte der DUP-Vorsitzende im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Donaldson bekräftigte, seine Partei werde sich einer Einheitsregierung in der Provinz mit der katholisch-republikanischen Partei Sinn Fein nicht anschliessen, solange der Streit um das sogenannte Nordirland-Protokoll nicht gelöst sei.
Donaldson forderte den britischen Premier Boris Johnson auf, das Protokoll durch einen Notfallmechanismus ausser Kraft zu setzen und fügte hinzu: «Wir haben uns schwer im Stich gelassen gefühlt, als die britische Regierung dem Protokoll zustimmte». An die Adresse Brüssels gerichtet sagte er: «Wenn Sie wirklich ernsthaft daran interessiert sind, das Karfreitagsabkommen zu schützen, erkennen Sie an, welchen Schaden das Protokoll daran anrichtet.»
Das Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags sieht einen Sonderstatus für die Provinz vor, um Kontrollen an der Grenze zum EU-Mitglied Republik Irland zu vermeiden. Dafür müssen nun aber Waren kontrolliert werden, wenn sie von England, Schottland oder Wales nach Nordirland gebracht werden. Die DUP befürchtet, das könnte der erste Schritt zu einer Loslösung Nordirlands von Grossbritannien sein.
Boris Johnson hatte die Vereinbarung mit Brüssel gegen den Willen der DUP getroffen, inzwischen aber immer wieder damit gedroht, sie platzen zu lassen. Sollte das geschehen, wäre mit einer deutlichen Reaktion aus Brüssel zu rechnen.
Ob sich die DUP mit ihrer harten Linie einen Gefallen getan hat, ist aber fraglich. Einerseits dürfte sie zwar Stimmen an die noch radikaler gegen das Nordirland-Protokoll eingestellte TUV verloren haben, andererseits machten wohl auch etliche frühere DUP-Wähler dieses Mal ihr Kreuz bei der Alliance Party. Die überkonfessionelle Partei will den Streit zwischen Befürwortern und Gegnern einer irischen Vereinigung hinter sich lassen und konnte die Zahl ihrer Abgeordneten im Vergleich zur vergangenen Wahl mehr als verdoppeln.
(sda/dpa)