Die Briten zerfleischen sich ob des Brexits. Die Italiener entdecken Mussolini neu. Die Osteuropäer wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Die Wahlen für das europäische Parlament stehen ganz im Zeichen der Nationalisten.
Wird es ihnen gelingen, am 26. Mai die EU aus den Angeln zu heben? In seinem Buch «Der Abstieg des Westens» zeigt Joschka Fischer, 68er-Rebell und ehemaliger deutscher Aussenminister, die aktuellen Brennpunkte der europäischen Politik auf. Hier eine Zusammenfassung in fünf Thesen.
Die Globalisierung und die Digitalisierung der Wirtschaft und der Aufstieg Chinas zur Supermacht haben in kurzer Zeit die Welt verändert. Der Boden, auf dem der Westen stand, ist schwankend geworden. Europa muss sich unter veränderten Umständen neu erfinden. Fischer formuliert es wie folgt:
Spätestens seit Donald Trump die liberale Ordnung des Westens systematisch zertrümmert, ist klar geworden, dass Europa sich neu erfinden muss und nicht mehr unter dem Schutz der USA weiterwursteln kann.
Eine Rückkehr zu einer Ordnung souveräner Nationalstaaten wie im 19. Jahrhundert ist eine Illusion. «Der Neonationalismus in Europa erweist sich als ein Nationalismus alter Menschen, die, ausser ihrer Ruhe, sonst nichts mehr wollen», stellt Fischer fest.
Europa ist, was die analoge Wirtschaft betrifft, nach wie vor Weltspitze. Auf die digitale Disruption hingegen ist es schlecht vorbereitet. Nicht nur Silicon Valley hat Europa diesbezüglich abgehängt. «China hat den Ehrgeiz, die digitale Führungsnation des 21. Jahrhunderts zu werden, und ist auf dem besten Weg, diesen Anspruch zu realisieren», so Fischer.
Auch bezüglich nachhaltigem Wirtschaften sind die Chinesen auf dem Vormarsch. Nur so kann verhindert werden, dass die rund 1,3 Milliarden Menschen buchstäblich im eigenen Dreck ersticken. «In dieser Entwicklung findet sich der eigentliche Grund und zugleich Zwang für den Strategiewechsel Chinas hin zu einer grünen Ökonomie», so Fischer, «und auch in dieser Frage wird es die USA in der globalen Führung ablösen.»
Die Sowjetunion ist zwar Geschichte, Russland träumt jedoch nach wie vor den Traum, eine Grossmacht zu sein. Es dürfte ein Traum bleiben: «Russland ist als Ergebnis von Putins Politik einfach wirtschaftlich und technologisch zu schwach, um eine Alternative zu der chinesischen Machtprojektion in seiner traditionellen Einflusszone in Zentralasien zu sein», so Fischer.
Russland hat daher ein grosses Interesse daran, die EU zu schwächen oder gar zu Fall zu bringen. Deutschland wäre dann wieder ein «Weltkind der Mitte» in Europa. Allerdings ohne Verankerung im Westen und ohne ausreichenden Schutz, denn die Geschichte macht es unmöglich, dass Deutschland wieder zu einer Militärmacht wird.
Russland sieht daher im Zerfall der EU die Chance, zur dominierenden Macht in Europa zu werden. Ein Bündnis mit Deutschland würde nicht nur die Wirtschaft stärken. Auch geopolitisch wäre Russland damit wieder im Spiel. «Wer die Mitte des Kontinents beherrscht, beherrscht diesen selbst», so Fischer.
Ohne grundlegenden Kurswechsel besteht die Gefahr, dass Europa entweder von den USA und China zerrieben oder in eine ungeliebte Partnerschaft mit Russland gedrängt wird. «Passives Abwarten und Vertrauen auf den Status quo kann angesichts dieser Risiken keine ernsthafte Option sein», so Fischer.
Gleichzeitig ist es naiv, darauf zu hoffen, dass die EU sich rasch in einen Superstaat verwandelt und so ihre wirtschaftliche Macht ausspielen kann. Zu gross sind die Differenzen zwischen Ost und West und den Mittelmeerstaaten. «Folglich bleibt nur eine Avantgardelösung, eine EU der zwei Geschwindigkeiten auf intergouvernementaler Grundlage», stellt Fischer fest.
Deutschland ist zwar die wirtschaftliche Lokomotive Europas. Eine deutsche Leaderrolle in der Politik ist jedoch nach wie vor undenkbar. Um ein Europa der zwei Geschwindigkeiten zu realisieren, «wird Deutschland sich daher ein gehöriges Stück auf Frankreich zubewegen müssen», fordert Fischer. «Denn nur wenn die beiden Grossen in der EU sich noch enger verbinden, wird Europa dazu in der Lage sein, strategisch zu denken und zu handeln.»
China ist nicht nur auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen Supermacht. Es wird auch ein politisches Vorbild. «Gegenüber dem chinesischen digitalen Leninismus wirken autoritäre Herrscher vom Schlage eines Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdogan vorgestrig», so Fischer, «denn das chinesische Modell kann nicht nur die autoritäre Herrschaft eines ‹starken Mannes›, sondern eine eigene Erfolgsgeschichte in Sachen Modernisierung liefern, ein System.»
Angesichts der offensichtlichen Dekadenz des Westens ist der Wettkampf gegen das chinesische Modell alles andere als gewonnen. «Das westliche Demokratiemodell wird es im 21. Jahrhundert schwer haben, gegen dieses chinesische Erfolgsmodell zu konkurrieren», so Fischer. Gleichwohl wird «die Schaffung einer europäischen Demokratie für die Europäische Union der Zukunft unverzichtbar sein, denn ohne diese wird die EU als europäisches Integrationsprojekt keine dauerhafte und belastbare demokratische Legitimation erlangen können.»
Grundlegende Veränderungen können nicht von oben verordnet werden. Das hat Michail Gorbatschow bei seinem Versuch, die UdSSR zu reformieren, schmerzlich erleben müssen. Es braucht eine Basisbewegung, wenn das Unterfangen erfolgreich sein will. Daher schliesst Fischer sein Buch mit dem Appell:
„China ist nicht nur auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen Supermacht. Es wird auch ein politisches Vorbild.“
Zwei Sätze die diametral voneinander abweichen. China verordnet alles von oben. Ein Vorbild? Jein. Wirtschaftlich ja, aber Gesellschaftlich sicher nicht. Eine Nation die ihr eigenes Volk überwacht und in Geiselhaft nimmt kann nie ein Vorbild sein.