Es war eine der grossen Überraschungen des Abends: Israels ESC-Künstlerin Yuval Raphael holte bei der Jury nur 60 Punkte – doch das Publikum wählte sie mit 297 Punkten auf Platz eins. In der Gesamtwertung katapultierte sie sich damit auf den zweiten Platz.
Die grosse Diskrepanz zwischen Jury- und Publikumswertung wirft Fragen auf: War das Televoting Ausdruck spontaner Unterstützung mit Israel? Oder das Resultat einer strategisch orchestrierten Mobilisierung?
In den sozialen Medien wird wild spekuliert: Von gezielter Einflussnahme bis zur grossen Verschwörung ist alles dabei.
Überzeugt davon, dass «es eine von Israel gelenkte politische Aktivierung gab», ist Ignasi Guardans. Im spanischen Radiosender Cadena SER äussert sich der ehemalige Direktor der Europäischen Rundfunkunion (EBU) am Montag mit deutlicher Kritik:
Das Voting-System beim ESC sei kein demokratisches Verfahren im klassischen Sinn, so Guardans weiter. Weil von einem Gerät aus bis zu 20 Stimmen abgegeben werden können, sei das System «instrumentalisierbar» – und genau das sei bei Israel geschehen. Zwar gebe es keine Hinweise auf Bots oder technische Manipulationen, doch eine politisch orchestrierte Mobilisierung sei sehr wohl erfolgt, ist der ehemalige EBU-Direktor überzeugt.
Für das Jahr 2025 gibt es keine offizielle Bestätigung, dass Israel staatliche Mittel einsetzte, um das Publikumsvoting zu beeinflussen. Der offizielle Israel-Account auf X veröffentlichte jedoch eine Plakatwerbung auf dem ikonischen Times Square in New York – um sogar US-Zuschauerinnen zur Abstimmung zu motivieren.
Fest steht: Israel hat in der Vergangenheit bereits staatlich gestützte Abstimmungskampagnen durchgeführt – und das auch bestätigt.
2024 mobilisierte Israel laut offiziellen Aussagen gezielt ESC-Zuschauende in ganz Europa – mit staatlicher Rückendeckung und viel Geld. David Saranga, Direktor des Büros für digitale Diplomatie im israelischen Aussenministerium, sagte gegenüber der Zeitung Times of Israel:
Die Kampagne, koordiniert vom Aussenministerium und der staatlichen Werbeagentur LAPAM, umfasste Social-Media-Videos in über zehn Sprachen – mit der damaligen israelischen ESC-Teilnehmerin Eden Golan als Gesicht. Vor dem Finale verzeichneten die Clips über 14 Millionen Aufrufe. Die Zielgruppen wurden laut dem israelischen Newsportal Ynet auf Basis früherer Abstimmungsmuster analysiert: LGBTIQ+-Communities, Fanclubs, ESC-Journalisten – und auch Menschen, die den Wettbewerb sonst gar nicht verfolgen.
Laut Ynet und «Times of Israel» forderte das Aussenministerium israelische Botschaften aktiv auf, zum Abstimmen zu ermuntern. Die Kampagne führte schliesslich zu 323 Punkten im Televoting – Platz zwei im Publikum, Platz fünf gesamt.
Auch ein Jahr zuvor gab es eine von Israel koordinierte Kampagne – damals für Noa Kirel mit dem Song Unicorn. Laut Ynet wandte sich Kirel in mehreren europäischen Sprachen an das Publikum. Zielgruppe waren erneut Fankreise, LGBTIQ+-Communities und Meinungsführerinnen. Der verantwortliche Diplomat David Saranga sagte damals gegenüber Ynet:
Die Kampagne erreichte gemäss offiziellen Angaben über 9 Millionen Views und 5 Millionen Interaktionen.
Auch andere Länder erleben beim ESC regelmässig starke Televoting-Ergebnisse: Die Ukraine erhielt 2022 fast durchgängig die Höchstwertung – Ausdruck weltweiter Solidarität. Und auch Polen, Serbien oder Armenien profitieren von starker Diaspora. Aserbaidschan wurde in der Vergangenheit immer wieder verdächtigt, in Voting-Manipulation involviert zu sein. Konkrete Beweise gibt es allerdings keine, und das Land weist die Vorwürfe zurück.
Was Israel unterscheidet: Der Staat bestätigt, selbst strategisch in den Prozess eingegriffen zu haben. Mit klarer Kampagnenführung, diplomatischer Koordination und aufbereiteter Zielgruppenanalyse. Offiziell ist das nicht verboten.
Dass Israel 2025 das Publikumsvoting gewann, ist Ausdruck von Unterstützung – aber auch Ergebnis gezielter diplomatischer Mobilisierung.
Diese Doppelmoral ist ohnehin bezeichnend für die Position viele Menschen im Westen in Bezug auf den Nahost-Konflikt.