Neue EU-Verträge: 570'000 Personen würden nach 5 Jahren Recht auf Daueraufenthalt erhalten
Die Zuwanderung bleibt anhaltend hoch und ein politisch heisses Eisen. In den neuen EU-Verträgen verpflichtet sich die Schweiz, die Personenfreizügigkeit auszudehnen und Teile der Unionsbürgerrichtlinie zu übernehmen. Diese erlaubt es EU/Efta-Bürgern, sich in allen Vertragsstaaten frei zu bewegen und räumt ein Daueraufenthaltsrecht nach fünfjährigem Aufenthalt ein. Ein Job ist keine Bedingung dafür.
Strömen jetzt Zehntausende Menschen aus der EU in die Schweiz, um sofort von den Segnungen des gut ausgebauten Sozialstaats zu profitieren?
Der Bundesrat sieht diese Gefahr gebannt, weil er eine «gewichtige Ausnahme» ausgehandelt hat, wie er in den Erläuterungen zum Vertragspaket schreibt. In der Schweiz erhalten EU/Efta-Bürger das Daueraufenthaltsrecht nämlich erst nach fünf Jahren Erwerbstätigkeit. Diese Personen, so der Bundesrat, seien «nachhaltig» in den Arbeitsmarkt integriert.
Das Risiko, dass sie arbeitslos würden, sei gering, die Wahrscheinlichkeit eines Sozialhilfebezugs beschränkt. Aktuell liegt die Erwerbsquote bei EU/Efta-Bürgern mit 86,8 Prozent leicht höher als bei Schweizern.
Der Begriff Erwerbstätigkeit ist jedoch grosszügig definiert. Ein Teilzeitpensum von 30 bis 40 Prozent reicht, gemäss der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof können auch 12 Wochenstunden genügen. Bis zu sechs Monate Sozialhilfebezug zählen nicht als erwerbslose Phase.
Auch Arbeitslose gelten formal als erwerbstätig, sofern sie sich beim regionalen Arbeitsvermittlungszentrum anmelden. Man kann also zum Beispiel in der Fünfjahresfrist ein halbes Jahr Sozialhilfe oder eineinhalb Jahre Arbeitslosengeld beziehen, ohne dass der Anspruch auf das Daueraufenthaltsrecht erlischt.
Besserer Schutz vor Ausschaffung
Das Daueraufenthaltsrecht geht weiter als die Niederlassungsbewilligung, die Ausländer nach zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz – für Bürger aus einigen EU-Staaten genügen fünf Jahre – beantragen können. Es schützt zum Beispiel besser vor Wegweisung. Wer dauerhaft Sozialhilfe bezieht, muss keine Ausschaffung mehr fürchten.
Doch was bedeutet die Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie in der Praxis? In einer Analyse im Auftrag des Bundes kommt das Forschungs- und Beratungsbüro Ecoplan zum Schluss, dass fünf Jahre nach Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie 570'000 Personen auf einen Schlag das Recht auf Daueraufenthalt erhalten. Jährlich kommen weitere 50'000 bis 70'000 dazu. Es handelt sich dabei um eine Modellrechnung.
Die Forscherinnen und Forscher von Ecoplan gehen davon aus, dass vor allem jene Personen das Daueraufenthaltsrecht beantragen werden, die bereits Sozialhilfe beziehen und arbeitslos sind. Attraktiver als eine Niederlassungsbewilligung könnte es laut Ecoplan auch für Personen in prekären Jobs und mit geringen Sprachkenntnissen sein; Integrationskriterien müssen im Gegensatz zur Niederlassungbewilligung nicht erfüllt werden.
Ecoplan rechnet aber nicht mit einem Ansturm auf das Daueraufenthaltsrecht – weil es für wirtschaftlich unabhängige Personen mit Niederlassungsbewilligung keinen praktischen Mehrwert biete. Das Forschungsbüro hält Zusatzkosten von 56 bis 74 Millionen bei der Sozialhilfe und 4000 bis 20'000 Anträge für das Daueraufenthaltsrecht pro Jahr für plausibel.
«Schweizer Pass ohne Stimmrecht»
Der Thurgauer SVP-Nationalrat Pascal Schmid misstraut diesen Prognosen. «Weshalb sollte jemand auf dieses Recht verzichten? Das Daueraufenthaltsrecht ist eine Art Schweizer Pass ohne Stimmrecht, eine lebenslange Garantie für staatliche Rundumversorgung und selbst bei Kriminalität nicht entziehbar», kritisiert er.
Schmid sieht auch bei den angepassten Regeln zum Familiennachzug ein Einfallstor für Einwanderung in den Sozialstaat. Der Grund: Mit der Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie wird der Familiennachzug ausgedehnt, auch für Drittstaatenangehörige. Nicht nur minderjährige Kinder und Ehegatten dürfen in die Schweiz nachreisen, sondern auch Enkel und Kinder, wenn sie noch nicht 21-jährig sind.
Das Gleiche gilt neu für eingetragene und reine Konkubinatpartner, aber auch Gross- und Schwiegereltern oder den pflegebedürftigen Onkel, falls sie von ihren Verwandten Unterstützung erhalten.
«Konkret bedeutet das, dass ein Syrer, der dank der deutschen Turboeinbürgerungen EU-Bürger wurde, in die Schweiz einwandern und danach seine Grossfamilie direkt aus Syrien nachziehen kann», sagt Schmid.
Der Bundesrat verhehlt nicht, dass sich die neuen Verpflichtungen auf die Zuwanderung auswirken können. Das Ausmass werde nicht so gross sein, dass eine eigenständige Steuerung der Zuwanderung verunmöglicht würde, relativiert er.
Die SVP hat sich bis jetzt als einzige Partei klar gegen die neuen Abkommen gestellt. Mit Ausnahme des skeptischen Gewerbeverbandes stehen auch die grossen Wirtschaftsverbände Economiesuisse und der Arbeitgeberverband dahinter. Arbeitgeberverband-Sprecher Stefan Heini sagt, der arbeitsmarktorientierte Kern der Personenfreizügigkeit werde mit der massgeschneiderten Teilübernahme der Unionsbürgerrichtlinie gewahrt. Sie minimiere die Möglichkeit direkter Einwanderung in den Sozialstaat.
Heini verweist zudem auf die Schutzklausel, welche die Schweiz auch einseitig aktivieren kann, sollte die Personenfreizügigkeit zu schwerwiegenden wirtschaftlichen Problemen führen. Es ist jene Schutzklausel, welche die SVP als «Fiktion» bezeichnet. (aargauerzeitung.ch)
