Das grosse Wort «Lieblingsregisseur» sollte nicht leichtfertig verwenden, wer das Kino liebt. Lieblinge tummeln sich dort so einige, die unsere Vorstellung vom Leben prägen, unser Verständnis für die Welt auf den Kopf stellen, unsere Träume bereichern oder manchmal auch so gehörig durchrütteln, bis sie als verstörende Albträume wiederkehren.
Für viele Menschen, darunter mich, der diesen Nachruf überrascht, erschüttert, tieftraurig zu den sphärischen Klängen des «Twin Peaks»-Soundtracks schreibt, war David Lynch mehr als der Lieblingsregisseur. Er war der Herzensregisseur. Lynch hat das Kino zwar nicht erfunden, aber doch erneuert, radikal erweitert, visionär eine traumartige Tür des Sehens aufgestossen, die sich kaum schliessen lässt, hat man sie einmal geöffnet.
Der am 20. Januar 1946 in Montana geborene Lynch war der Spezialist für das Surreale, für das Erschrecken und das Erwachen, das diesem Erschrecken folgt. Mit «nur» zehn Spielfilmen zwischen 1977 und 2006 schrieb er Geschichte. Davon kann lediglich seine Version des überbordenden Science-Fiction-Romans «Dune», der 2021 von Denis Villeneuve neu adaptiert wurde, als gescheitert gelten; was Lynch selbst sofort klar war, da er vom Studio nicht die volle Kontrolle über das Projekt bekam. Alle anderen Filme hingegen: Meisterwerke, bis heute.
Es sind zahllose Bilder, die sich tief ins kollektive Gedächtnis des Kinos eingebrannt haben: Der deformierte Elefantenmensch, der den Massen, die ihn ans Gitter der U-Bahn-Station drängen, gedämpft zuruft: «I am not an animal! I am a human being!» Die nächtlichen Strassenmarkierungen im Scheinwerferlicht, über die Bill Pullman in «Lost Highway» seinem schleifenförmigen Schicksal zu entkommen versucht, dazu klagt David Bowie: «I'm deranged». Ganz das Gegenteil dazu die sonnenüberflutete Strasse, auf der ein alter Mann auf seinem Sitz-Rasenmäher gemächlich seinem Ziel, dem kranken Bruder, entgegentuckert – «The Straight Story».
«Mulholland Drive», Lynchs Liebeserklärung an und zugleich Abrechnung mit Hollywood aus dem Jahr 2001, wurde in einer Kritikerumfrage der BBC zum wichtigsten Film des 21. Jahrhunderts gewählt. Als ich ihn mit viel zu frühen zwölf Jahren zum ersten Mal sah, kippte ich bei der Szene, bei der sich plötzlich eine Fratze hinter einem Mauervorsprung hervorschiebt, kreischend vom Stuhl. Damals lehrte mich Lynch einen misstrauischen Blick hinter die Bilder: Pass auf! Nichts ist, wie es scheint, alles hängt zusammen, das Schöne und das Schreckliche. Aber nicht so, wie du denkst.
Wenige Regisseure schaffen es, dass bereits ihr Debüt zum Kultfilm wird, Lynch zählt dazu. Nach einem unerfüllten Kunststudium in Boston und Philadelphia, einem noch unerfüllteren Europa-Kurzaufenthalt und ersten Kurzfilmen, schrieb er sich 1970 am American Film Institute in Los Angeles ein. Die Stadt der Engel – und Teufel – blieb ihm lebenslange Heimat. Dort kratzte Lynch das Geld zusammen für seinen «spirituellsten» Film, der in jahrelanger Handarbeit und dank der Hilfe vieler Freunde aus Sperrmüll und mit originellen Toneffekten geschaffen wurde: «Eraserhead» (1977).
Die surreale Groteske in Schwarz-Weiss um das gestörte Verhältnis eines Vaters zu seinem missgebildeten Kind lief zuerst in der Low-Budget-Sektion der sogenannten «Midnight Movies». Durch Mundpropaganda wurde «Eraserhead» bekannt, John Waters und Stanley Kubrick lobten ihn. Sein Schöpfer avancierte zur Kultfigur, stets mit Zigarette zwischen den Fingern. Die steil aufwärtsgerichteten Haare liessen ihn wirken wie einen durch den Generator gejagten, genialischen Guru. Dieser Eindruck verstärkte sich, als er während der Dreharbeiten in Kontakt mit der Transzendentalen Meditation kam. Bald trat er als ihr Botschafter auf.
So wurde David Lynch auch zum Codewort, das für Kunst, Kreativität und hippen Stil stand. Für Coolness und ein Lebensgefühl, das Lässigkeit mit harter Abgeklärtheit verband. Für eine Schnittstelle zwischen Mainstream – Lynch wurde viel umschwärmte Marke und Frauenschwarm; viermal war er verheiratet – und Underground. Wie geschaffen für einen eingeweihten Kreis von Leuten, die wussten, oder wissen wollten, wie der Hase lief. Wer mit David Lynch nichts anfangen konnte, dem verschloss sich ein eigener Kosmos aus Zigarettenrauch, Elektrizität, Sinnlichkeit, Gewalt, Rock 'n' Roll und dem doppeldeutigen Spiel mit Identitäten und Körpern. So jemand war schlicht draussen und musste Disney schauen.
Wer Paradoxien nicht aushält, ist bei Lynch tatsächlich an der falschen Adresse. Ein freundlicher Mann, der finstere Filme schuf und dabei fröhliche Ratschläge erteilte wie: «Achte auf den Donut, nicht auf das Loch!» Ein technisch begabter Arbeiter («Filmemachen ist zum grössten Teil gesunder Menschenverstand»), der zugleich ein übersinnlicher Träumer war. Wenige Regisseure gelten als rätselhafter, dabei sollte jeder Winkel seines Werks längst von Studenten und Doktorandinnen ausgeleuchtet sein. Doch je mehr Licht auf die Schatten fällt, desto dunkler wird es. Lynch selbst gab zwar oft Interviews, trat in Dokus auf, erklärte jedoch beharrlich, dass er über seine Filme nichts zu erklären hätte.
Man könnte an eine düstere, hässliche Kindheit bei einem denken, der seinen Figuren brutal den Kopf wegschiessen lässt wie in «Wild at Heart» (1990) oder in «Lost Highway» (1997) einen unheimlichen Mann an einer Party erscheinen lässt, der behauptet, an zwei Orten zugleich zu sein. Doch David Lynch wuchs brav behütet auf dem Land auf, mit viel Frischluft, Natur und Bastelarbeit. Ein Junge, der nicht nur träumte, sondern seine Träume in die eigene Hand nahm. Der letztlich ein Romantiker war, der zwar Brutalität kannte, aber keinen Zynismus.
«Ich machte mir nicht besonders viele Gedanken darüber, aber ich wusste, dass hinter den Türen und Fenstern Dinge passierten», schrieb Lynch in seiner Autobiografie «Room to Dream» über seine Adoleszenz in den 50er-Jahren, die stilprägend für seine Werke werden würde. Türen und Fenster, die ihm – und uns als Publikum – einen Blick gewähren unter die Oberfläche, mitten hinein in andere, verborgene Welten, wo Obsessionen, Perversionen und Projektionen lauern, vor denen man manchmal lieber die Augen schliessen würde. Doch das geht nicht.
So wie 1986 in «Blue Velvet», der in einer rot-weiss-blauen Vorstadtidylle beginnt, ehe ein studentischer Grünschnabel ein abgetrenntes Ohr im Gras entdeckt, aus dem schon die Ameisen krabbeln. Der Fund führt ihn von einem Versteck im Kleiderschrank in die härtesten Abgründe der Kleinstadt, wo Isabella Rossellini als Barsängerin geschlagen und missbraucht wird, Dennis Hopper mit Atemgerät gleichzeitig der grässlichste Macho und das kleinste Kind ist und Roy Orbison das Lied von einem «candy-colored clown they call the sandman» anstimmt.
Nachdem Lynch dem Kino seinen Stempel aufgedrückt hatte, folgte das Fernsehen. Wenn man heute noch jemandem das Phänomen «Twin Peaks» erklären muss, liegt das auch daran, dass es diese Serie war, die die heute hohe Zahl an Qualitätsproduktionen auf den Streamingportalen überhaupt ermöglicht hatte. Ohne «Twin Peaks» kein «Akte X», keine «Sopranos», kein «Breaking Bad», kein «Game of Thrones», wie auch die Macherinnen und Macher all dieser Erfolgsserien regelmässig betonten.
Bevor der schneidige, ultradisziplinierte und mit einer Neigung zur Esoterik ausgestattete Agent Cooper (Lynch-Stammschauspieler Kyle MacLachlan) das schläfrige Städtchen Twin Peaks betrat, in dem nichts war, wie es scheint (schon gar nicht die Eulen), bestand das US-Abendfernsehen hauptsächlich aus Polizeikrimis und drögen Soaps. Dann kamen 1990 die Revolution und ein Rätsel, das ein Millionenpublikum an die Bildschirme fesselte: Wer hat Laura Palmer ermordet?
Die 30 Folgen «Twin Peaks» vereinten Horror, Mystery, Thriller, Romance – und wurden zum ultimativen Suchtmittel, über das man nachmittagelang reden kann. Die Tatsache, dass Lynch bald vom Sender ABC gezwungen wurde, den Mörder der schönen, doch unheilvollen High-School-Queen preiszugeben, tat der Qualität zwar leichten, der Faszination jedoch keinen Abbruch. Bis heute treffen sich Fans weltweit, um zusammen mit den Darstellerinnen und Darstellerinnen über die Serie zu sprechen, Drehorte an der kanadischen Grenze zu besichtigen oder Kirschkuchen zu schlemmen.
Kino, Fernsehen, aber auch Malerei, Fotografie, Musik und Handwerk – David Lynch war ein multimedialer Künstler. Womöglich ein Grund, dass er es schaffte, etablierter Teil des Filmbetriebs zu sein und ein zugleich eigenwilliger Aussenseiter zu bleiben. An den bedeutenden europäischen Festivals war Lynch regelmässiger Gast, erhielt die Goldene Palme von Cannes ebenso wie den Goldenen Löwen von Venedig. Viermal war er für den Oscar nominiert, doch nur einen hat er bekommen, 2019 der Ehre halber, wie so mancher Grosse seiner Zunft.
2006 kam der letzte Lynch-Film in die Kinos, «Inland Empire», zerstückelt und völlig verrätselt, die Form so weit vom Inhalt abgelöst, dass danach nicht mehr viel Radikaleres folgen konnte. Dabei zeigte sich Lynch, der sehr früh im Internet unterwegs war und während der Pandemie witzige Wetter-Updates aus Kalifornien lieferte, technisch auf der Höhe der Zeit, als er feststellte: «Für mich ist der analoge Film tot.»
Ein Jahrzehnt später, das unter anderem mit Ausflügen in die elektronische Musik gefüllt war, kehrte David Lynch mitsamt «Twin Peaks» noch einmal zurück. Bloss war die dritte Staffel «The Return» 2017 keine Rückkehr, sondern eine radikale Infragestellung von nostalgischen Vorstellungen: Ihr wollt noch einmal eintauchen in dieses magische Städtchen, mit seinem schmucken Diner, dem Roadhaus, den rauschenden Wäldern und dem herrlich altmodischen Hotel am Wasserfall? Aber nein, das geht nicht.
Einmal war David Lynch noch auf der grossen Leinwand zu erleben: Für Steven Spielbergs autobiografisches Drama «The Fabelmans» verkörperte er 2022 einen mürrischen John Ford, der dem Nachwuchsregisseur am Schluss einen wertvollen Ratschlag gibt: «Schau auf den Horizont bei einem Bild. Ganz oben ist er interessant, ganz unten auch. In der Mitte ist er beschissen langweilig.» Ein künstlerisches Statement, das auch von Lynch selbst stammen könnte.
In letzter Zeit stand es nicht gut um den Gesundheitszustand des ewigen Rauchers, der seine Passion schliesslich vor zwei Jahren aufgab. In einem Interview mit dem «People»-Magazin bekannte Lynch, er könne wegen seines Lungenemphysems ohne Atemprobleme kaum mehr das Zimmer durchqueren, geschweige denn das Haus verlassen. Bis zuletzt hofften seine Fans auf neues Material, immer wieder entstanden neue Gerüchte um eine Zusammenarbeit mit Netflix ... etwa doch noch einmal «Twin Peaks»?
Das wird nicht mehr passieren in dieser Welt. Wie seine Familie ohne Angabe der Todesursache bekannt gab, starb David Lynch wenige Tage vor seinem 79. Geburtstag, zur Zeit der verheerenden Brandkatastrophe in Los Angeles. Das Kino ist um ein gewaltiges Stück ärmer geworden. Hoffentlich hält der Himmel (oder besser, für Eingeweihte: die White Lodge) verdammt guten schwarzen Kaffee und Kuchen parat. (bzbasel.ch)