Am Dienstag kam es in vielen französischen Städten wieder zu Massendemonstrationen und Streiks. Der Grund: Der französische Präsident Emmanuel Macron will das Pensionsalter erhöhen.
Die französische Bevölkerung ist damit nicht einverstanden: Knapp zwei Drittel der Französinnen und Franzosen sprechen sich in Umfragen gegen das Reformvorhaben aus. 750'000 Menschen gingen deshalb gestern auf die Strasse – laut der Gewerkschaft CGT sollen es sogar zwei Millionen Demonstrantinnen und Demonstranten im ganzen Land gewesen sein.
Bereits vergangene Woche beteiligten sich an Streiks und Protesten nach Angaben des Innenministeriums 1,27 Millionen, nach Angaben der Gewerkschaft CGT 2,8 Millionen Menschen. Auch wenn diese Zahlen weit auseinandergehen: Die Mobilisierung ist und bleibt massiv.
«Retten wir unsere Rente» oder «Besser/Alt leben» war auf Schildern zu lesen. Es war die grösste Demonstration gegen Rentenreformen, seit der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy 2010 das Rentenalter von 60 auf 62 angehoben hat.
Mit 62 Jahren ist das Rentenalter in Frankreich tiefer als in den meisten anderen europäischen Ländern. Italien, Deutschland und Spanien haben das Rentenalter bereits auf 67 erhöht, in Grossbritannien liegt es bei 66 Jahren.
Nun will Frankreichs Regierung das reguläre Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anheben, weil sich das aktuelle System langfristig nicht mehr finanziere. Dass es eine Änderung braucht, legen offizielle Prognosen nah, die für die kommenden Jahre Defizite der Rentenkasse aufzeigen. Macron und seine Regierung pochen darauf, dass eine Anhebung des Rentenalters notwendig sei. Ausserdem soll die Zahl der nötigen Einzahlungsjahre für eine volle Rente schneller steigen. Ab 2027 muss man neu 43 Jahre statt bisher 42 Jahre gearbeitet haben, um mit 64 die volle Rente zu erhalten.
Auch wenn das Renteneintrittsalter momentan bei 62 Jahren liegt, beginnt der Ruhestand im Schnitt aber später: Wer nicht lang genug eingezahlt hat, um Anspruch auf eine volle Rente zu haben, arbeitet länger. Mit 67 Jahren gibt es dann unabhängig von der Einzahldauer Rente ohne Abschlag – dies will die Regierung beibehalten. Die monatliche Mindestrente will sie auf etwa 1200 Euro hochsetzen. Zuvor lag diese bei 960 Euro.
Mit der Reform sollen auch etliche Einzelsysteme mit Privilegien für bestimmte Berufsgruppen abgeschafft werden. Die Gewerkschaften halten die Reform für ungerecht und brutal.
Wie Philippe Martinez, Vorsteher der Gewerkschaft CGT, vor zwei Wochen erklärte, benachteilige die Rentenreform generell die schlechter Verdienenden, die schon früh in die Arbeitswelt eingestiegen seien. Auch Frauen kämen bei der neuen Reform nicht gut weg. Für sie sei es unter anderem wegen Kindern viel schwieriger, auf die neu geforderten 43 Jahre Beitragsdauer zu kommen.
Die Zeit Online hat mit einigen Menschen an den Protesten vom Dienstag gesprochen. Unter anderem auch mit Vanessa Frosin, einer 40-jährigen Busfahrerin. Sie spricht sich vehement gegen das erhöhte Pensionsalter aus:
Sie gehöre auch zu denjenigen Frauen, die auch mit 64 noch keine volle Rente kriegen würden. Sie werde verarmt alt werden.
Auch der Krankenpfleger Laurent Gleizes protestiert. Der 55-Jährige arbeitet auf der Intensivstation – ein Beruf, der körperlich sehr anstrengend ist. Längeres Arbeiten werde deshalb in dieser Branche zum Problem, klagt er:
Viele würden früher aufhören und gingen dadurch mit einer kleineren Rente nach Hause.
Aber nicht alle Privilegien werden aufgehoben: Schauspielende der Comédie Francaise – des klassischen französischen Theaters – haben nach zehnjähriger Bühnentätigkeit Anspruch auf eine lebenslange Rente. Diese Regelung stammt noch aus dem Jahr 1680, als das Theater gegründet wurde.
Ähnlich verhält es sich mit Tänzerinnen und Tänzern der Pariser Oper. Diese dürfen gemäss einer Regelung aus dem Jahr 1689 bereits mit 42 Jahren in den Ruhestand gehen. Bühnenarbeitende der Oper und des Theaters dürfen mit 57 Jahren Rente beziehen. Diese Regelungen bleiben unangetastet.
Des Weiteren profitieren auch Arbeitende in Berufen, die als körperlich oder geistig anstrengend gelten, von Rentenprivilegien. Mit der neuen Reform aber nur noch, wenn eine ärztliche Untersuchung im 61. Lebensjahr bestätigt, dass die betroffenen Personen nicht mehr arbeitsfähig sind. In diesem Fall dürfen sie bereits mit 62 Jahren bei vollem Rentenanspruch in den Vorruhestand gehen. Zu den dazu berechtigten Personen gehören unter anderem Polizeibeamte, Gefängniswärterinnen und -wärter und Kanalreinigungskräfte. Sie durften bisher mit 52 in den Ruhestand gehen.
Frankreichs Nationalversammlung hat mit der Plenarberatung zur geplanten Rentenreform der Mitte-Regierung begonnen. Die Diskussion über das umstrittene Vorhaben startete am Montagnachmittag in aufgeheizter Stimmung. Weil Arbeitsminister Olivier Dussopt wegen der Unruhe auf den Oppositionsbänken zunächst kaum zu Wort kam, wurde die Sitzung kurz nach Beginn für wenige Minuten unterbrochen.
Frankreichs linkes Lager und die Rechtsnationalen lehnen die Reform ab. Für die Plenardebatte lagen mehr als 20'000 Änderungsanträge vor. Die Regierung setzt darauf, die Reform mit den Stimmen der oppositionellen Republikaner durchzubringen. Eine Mehrheit steht aber noch nicht.
Auch ist nicht ausgemacht, wie das Kräftemessen zwischen den Gewerkschaften und der Regierung auf der Strasse weitergeht. Neben Massenprotesten fürchten der Präsident und seine Regierung vor allem lange andauernde Streiks etwa bei den Verkehrsbetrieben oder Raffinerien, die das Land lahmlegen könnten. Die Gewerkschaften haben sich teils bereits für verlängerbare Streiks ausgesprochen.
Angesichts dessen gibt es mittlerweile auch in der Regierungsfraktion Zweifler. Vorbehalte haben auch Abgeordnete der Republikaner ausgedrückt. Regierungschefin Élisabeth Borne versprach den Konservativen nun Zugeständnisse – etwa mit Blick auf frühere Renten bei frühem Beginn des Arbeitslebens.
(saw, mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa)