Die Erwartungen an den Prozess waren hoch, vermutlich zu hoch. Wie konnte es auch anders sein bei einer so schrecklichen Tat: Als das Feuerwerk zum französischen Nationalfeiertag von 2016 in Nizza zu Ende war, raste ein 19 Tonnen schwerer Lastwagen über die Strandpromenade und überfuhr gezielt Passanten.
86 Menschen starben auf der berühmten Promenade des Anglais, dazu kamen 400 Verletzte und noch viel mehr Traumatisierte. Von Überwachungskameras übersät, hat sich Nizza bis heute nicht von dem Horror erholt.
Zum Prozessbeginn Anfang September hatten sich 850 Nebenkläger eingeschrieben. Da der Attentäter Mohamed Lahouaiej-Bouhlel aus Tunesien nicht mehr lebte, wollten sie wenigstens von den Komplizen wissen, wie und warum es zu dieser Amokfahrt im Jahr nach den Charlie-Hebdo- und Bataclan-Anschlägen gekommen war.
Antwort gab der Prozess nur sehr bedingt. Die acht Angeklagten – in der Mehrheit tunesische Bekannte und albanische Waffenlieferanten, darunter eine Gelegenheitsprostituierte – bestritten allesamt, von der terroristischen Absicht des Attentäters gewusst zu haben. Vier Angeklagte hatten Lahouaiej-Bouhlel nie auch nur gesehen, andere hatten bei der LKW-Miete geholfen.
Drei Angeklagte werden der «Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung» bezichtigt. Dieser Tatbestand fusst teils auf einer einzigen SMS, das ihnen der Täter wenige Minuten vor der Amokfahrt geschickt hatte. Darauf hatte er absurderweise ihre eigenen Namen und Adressen so präzis vermerkt, dass die Ermittler stutzig wurden.
Einzelne nehmen an, dass Lahouaiej-Bouhlel in seiner sadistischen Perversion versucht hatte, im letzten Moment noch Bekannte anzuschwärzen, um nicht als Alleintäter durchzugehen.
Der Anwalt William Bourdon warnte in seinem Schlussplädoyer vor dem «Risiko eines Justizirrtums»: Sein Klient Mohamed Ghraieb gelte als Terrorist, obwohl nichts auf eine auch nur ansatzweise Radikalisierung schliessen lasse. Zu Last gelegt, werde ihm ein «Selfie» in dem weissen Laster drei Tage vor dem Attentat. Wozu Lahouaiej-Bouhlel das Fahrzeug gemietet hatte, will der tunesische Jugendfreund des Amokfahrers nicht gewusst haben. Die Staatsanwaltschaft geht dagegen von einer Terror-Absicht aus und verlangt für Ghraieb 15 Jahre Haft.
Die Zeitung «Le Monde» kommentierte aufgrund der unklaren Beweislage: «Die Logik der Anklage entzieht sich einem.» Anwälte und Medien äussern auf diverse Weise eine Vermutung: Konnte die Staatsanwaltschaft mit Rücksicht auf die Opfer und den erlebten Horror überhaupt anders als auf «Terrorismus» zu befinden, selbst wenn einzelne Angeklagte blosse Waffenhändler aus dem Rotlichtmilieu in Nizza waren?
Die Terrorabsicht des LKW-Fahrers steht dagegen ausser Frage, auch wenn die Art seines Wahns ungeklärt ist. Der gewalttätige Drogensüchtige hatte erst wenige Wochen vor der Amokfahrt eine Moschee besucht oder aus dem Koran rezitiert. Er hatte keinen Kontakt zur IS-Miliz, die unüblich spät die Urheberschaft übernahm.
Allgemein wird erwartet, dass das aus Richtern gebildete Schwurgericht den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgen wird. Undenkbar, dass eine solche Untat mit Freisprüchen endet, und sei dies nur für Angeklagte, deren Mitwisserschaft unbewiesen ist.
Die Klägerseite zeigt darüber keine Befriedigung. Sie versteht nicht, dass der französische Zentralstaat den Prozess nicht in Nizza abwickelte, sondern im fernen Paris. Auch vermisst sie einen zweiten Prozess – zur Frage, ob die Polizei die LKW-Zufahrt auf die Strandpromenade hätte verhindern können. Dieser Aspekt wurde im Prozess ebenso verdrängt wie die Frage, warum einigen Opfern Organe entnommen wurden, ohne dass die Angehörigen auch nur informiert wurden.
Insgesamt hinterlassen die viermonatigen Verhandlungen den Eindruck eines unmöglichen Prozesses. Aus juristischer Sicht war er zweifellos unerlässlich, und sei es nur als Gesprächstherapie für Hunderte von Angehörigen, die sich erstmals öffentlich äussern konnten oder wollten. Die politische Debatte konnte der Prozess aber nicht ersetzen, geschweige denn erledigen.