Am Dienstagmorgen hat ein Polizist in Nanterre, einem Vorort der Hauptstadt Paris, den 17-Jährigen Nahel M. erschossen. Der Jugendliche war laut der Staatsanwaltschaft in hohem Tempo mit dem Auto unterwegs, weshalb ihn eine Motorradstreife anhalten wollte. Laut bisherigen Erkenntnissen brauste der junge Mann in der Folge bei Rot über eine Ampel davon. Kurz darauf holten ihn die Beamten ein, einer von ihnen gab den tödlichen Schuss ab.
Die beiden an der Kontrolle beteiligten Polizisten rechtfertigten ihr Handeln damit, dass es sich um Notwehr gehandelt habe. Laut dem Sender France Info sagten sie aus, der Jugendliche habe sie überfahren wollen.
Kurz darauf machte in den sozialen Medien aber ein Video des Vorfalls die Runde, das ein anderes Bild zeigt. In diesem ist zu sehen, wie der Beamte seine Waffe bei der Kontrolle auf Höhe der Fahrertür in das stehende Auto richtete. Die Situation scheint unter Kontrolle, hektische Bewegungen sind nicht zu erkennen. Als der 17-Jährige plötzlich losfährt, feuert der Beamte aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust. Das Auto fuhr dann noch einige Meter weiter und rammte eine Strassenabsperrung.
Gegen den Verdächtigen, einen 38-jährigen Mann, wird wegen Totschlagsverdacht ermittelt. Die Familie des Jungen kündigte über ihren Anwalt an, sie werde den Todesschützen wegen Mordes verklagen und auch wegen Falschaussage, weil seine Darstellung der Ereignisse von den Videoaufnahmen eindeutig widerlegt werde.
Durch das Video auf Social Media löste der Todesfall eine Welle der Empörung aus. Der Konsens: Die Schussabgabe des Polizisten sei völlig unnötig gewesen.
Damit reihte sich der Vorfall in eine Reihe weiterer Verdachtsfälle ein. Zuletzt kam es immer wieder vor, dass in Frankreich Menschen bei Fahrzeugkontrollen ums Leben kamen, wenn sie sich nicht an die Polizeianweisungen hielten. Wie die Zeitung «L'Obs» berichtete, starben 2022 bei Verkehrskontrollen 13 Menschen, nachdem sie sich der Polizei hatten widersetzen und davonfahren wollen. Zu tödlichen Schüssen kam es selbst dann, wenn es sich bei den kontrollierten Menschen nicht um gesuchte Schwerkriminelle handelte.
Auch beim getöteten jungen Mann von Nanterre war dies nach Informationen von France Info nicht der Fall. Der 17-Jährige war der Polizei zwar schon bekannt, allerdings nicht wegen schwereren Verbrechen, sondern wegen früherer Verkehrsdelikte und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.
Einige Stunden nach dem tödlichen Schuss begannen die Proteste in Nanterre. Am Dienstagabend protestierten Menschen vor der Polizeiwache des Pariser Vorortes gegen das Verhalten der Beamten.
In der folgenden Nacht weiteten sich die Demonstrationen aber im ganzen Land aus. In diversen grossen Städten wie Lille, Nantes, Toulouse und Lyon gingen die Leute ebenfalls auf die Strasse.
Die Proteste blieben allerdings nicht friedlich. Vielerorts eskalierten die Demonstrationen und entwickelten sich zu gewaltsamen Krawallen. Mülltonnen, Autos, ein Bus und ein Lastwagen, Baumaschinen und eine Pariser Strassenbahn wurden in Brand gesetzt. In Mantes-la-Jolie wurde ein Rathaus angezündet, in Mons-en-Barœul bei Lille verwüsteten Vermummte ein Bürgermeisteramt, in Fresnes bei Paris wurde eine Haftanstalt mit Feuerwerkskörpern angegriffen, in Nizza zwei Polizeiwachen und ein Streifenwagen.
🚨Jeune tué par un policier 👮 à #Nanterre : à #ManteslaJolie , la mairie 🇫🇷du Val Fourré incendiée. Un engin de chantier brûlé et des poubelles dans différents endroits pic.twitter.com/i0gDuvSceU
— Mantes Actu (@mantes_a) June 27, 2023
Die Polizei Frankreichs reagierte landesweit mit einem grossen Aufgebot. Nach Innenminister Gérald Darmanin wurden bis am Donnerstag 40'000 Beamte mobilisiert, 5000 davon im Raum Paris. Dabei setzt die Polizei Drohnen, Tränengas und Gummigeschoss ein.
In Nacht zum Freitag kamen Spezialkräfte und Hubschrauber in etlichen Städten zum Einsatz, berichteten die Zeitung «Le Parisien» und der Sender BFMTV. Wie aus dem Umfeld von Innenminister Gérald Darmanin in der Nacht bekannt wurde, gab es mindestens 420 Festnahmen, davon 242 im Grossraum Paris.
In der Hafenstadt Marseille gerieten Hunderte Protestierende mit der Polizei aneinander, Geschäfte wurden geplündert und 14 Menschen festgenommen. In Lille, Lyon und in Bordeaux kamen Spezialeinheiten der Polizei zum Einsatz. In Grenoble wurde ein Bus mit Feuerwerkskörpern beschossen und die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe legten daraufhin die Arbeit nieder.
Auch in Belgiens Hauptstadt Brüssel kam es am Donnerstagabend zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Ordnungskräften. Nach Angaben der belgischen Nachrichtenagentur Belga wurden etwa 30 Menschen festgenommen, ein Grossteil davon waren Minderjährige. Jugendliche hätten sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Ordnungskräften geliefert und es habe mehrere Brände gegeben, erklärte die Polizei. Wie die Brüsseler Verkehrsgesellschaft auf Twitter mitteilte, wurde ein Teil des öffentlichen Personennahverkehrs eingestellt.
Am Donnerstag kam es in Paris zu einem grossen Trauermarsch für den 17-Jährigen. Zu diesem hatte die Mutter des Getöteten aufgerufen. Rund 6000 Menschen marschierten mit und forderten dabei Gerechtigkeit. Viele von ihnen trugen weisse T-Shirts mit der Aufschrift «Gerechtigkeit für Nahel» und Schilder, auf denen «Die Polizei tötet» zu lesen war.
Die Mutter des am Dienstag erschossenen Jugendlichen sass auf dem Dach eines Autos im Zentrum des Marsches durch den Vorort von Paris. Der Umzug verlief zunächst grösstenteils friedlich, gipfelte dann aber auch in Krawalle. Die Demonstranten bewarfen die Beamten dabei unter anderem mit Molotow-Cocktails. Die Polizei überwachte die Lage mit Hubschraubern und zog Spezialkräfte in Nanterre zusammen.
Die heftigen Proteste erreichten nach kurzer Zeit die Politik. Präsident Emmanuel Macron reagierte mit Mitgefühl und einer deutlichen Kritik am mutmasslichen Schützen auf den Tod des 17-Jährigen. «Wir haben einen Jugendlichen, der getötet wurde, das ist nicht zu erklären und nicht zu entschuldigen», schrieb Macron kurz nach dem tödlichen Schuss auf Social Media.
Angesichts der anhaltenden Krawalle hat Macron ein Krisentreffen einberufen. Der interministerielle Krisenstab solle am Freitag um 13.00 Uhr zu einer Sitzung zusammenkommen. Das teilte der Élyséepalast mit. Macron nahm am Freitagmorgen noch an einem EU-Gipfel in Brüssel teil.
Les violences contre des commissariats, des écoles, des mairies, contre la République, sont injustifiables.
— Emmanuel Macron (@EmmanuelMacron) June 29, 2023
Merci aux policiers, aux gendarmes, aux sapeurs-pompiers et aux élus mobilisés.
Le recueillement, la Justice et le calme doivent guider les prochaines heures.
Am Donnerstag kritisierte er die Gewalt auf den Strassen. «Die Gewalt gegen Polizeistationen, Schulen, Rathäuser und gegen die Republik ist nicht zu rechtfertigen», so Macron, der deshalb forderte: «Nun braucht es Besinnung, Gerechtigkeit und Ruhe.»
Besonders klare Worte zum Vorfall wählte Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon. «Die Todesstrafe gibt es in Frankreich nicht mehr», schrieb er auf Social Media. Die Polizei habe kein Recht zu töten, es sei denn, es handelt sich um Notwehr.
Am Donnerstag doppelte er nach und kritisierte die Regierung dafür, Ruhe zu fordern. «Die Wachhunde befehlen uns, zur Ruhe aufzurufen. Wir rufen zur Gerechtigkeit auf», so Mélenchon. «Suspendiert den mörderischen Polizisten und seinen Komplizen, der ihm befohlen hat zu schiessen.» Zudem forderte er eine grundlegende Polizeireform, was auch die Polizeigewerkschaft CGT Interieur laut der Zeitung «Le Parisien» begrüssen würde.
Les chiens de garde nous ordonnent d'appeler au calme. Nous appelons à la justice. Retirez l'action judiciaire contre le pauvre Nahel. Suspendez le policier meurtrier et son complice qui lui a ordonné de tirer. Foutez la paix à l'ambulancier.
— Jean-Luc Mélenchon (@JLMelenchon) June 28, 2023
Andere Politiker verurteilten den tödlichen Schuss, aber äusserten auch scharfe Kritik an den Demonstranten. «Es wird eine harte Nacht werden, Sie sind die Verteidiger unserer kollektiven Sicherheit. Dieses Chaos ist durch nichts zu rechtfertigen!», so der Präsident der konservativen Républicains, Éric Ciotti. Und Rechtspopulistin Marine Le Pen schreibt: «Unserem Land geht es immer schlechter und die Franzosen zahlen die schreckliche Rechnung für diese Feigheit und Kompromisse.»
Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete den Tod des 17-Jährigen als «Drama», wies zugleich aber darauf hin, dass Widerstand gegen die Staatsgewalt schon in vielen Fällen zum Tod von Polizisten geführt habe.
(dab, mit Material der Nachrichtenagentur Keystone-SDA)
Es gibt nur Verlierer bis jetzt: der Junge, der der Kontrolle entfliehen wollte. Der Polizist, der wohl auch nie mehr froh wird.
Nun kommen aber noch Massen dazu: Proteste und Krawalle. Nicht ohne Gewalt und Opfer. Was haben denn Rathäuser, Polizeistationen und insbesondere Schulen damit zu schaffen?Werden hier nicht noch weitaus mehr Opfer in die Angelegenheit hineingezogen (oder überhaupt produziert) als nötig?
Zwei Menschen waren einem Konflikt nicht gewachsen. Wie viele müssen es nun noch werden, damit "irgendwer" damit zu frieden ist?
Quintessenz aus dem Film und der Realität: Aus Gewalt kann nur Gewalt entstehen. L'important c'est pas la chute. C'est l'atterissage.