Nur einen Tag nach dem Misstrauensvotum gegen Bayrou meldete der Élysée-Palast die Ernennung Lecornus. Der 39-Jährige, mehrfacher Minister und früher Konservativer, gilt als Pragmatiker mit Kontakten nach rechts und ohne völlige Ablehnung im linken Lager. Macron hofft, dass er die blockierte Nationalversammlung zu einem Minimum an Zusammenarbeit bewegen kann.
Lecornu soll mit den Fraktionen beraten und den dringend nötigen Haushalt aufstellen. Erst danach will er sein Kabinett präsentieren. Laut Élysée soll sein Handeln «von der Verteidigung der Unabhängigkeit und der Stärke Frankreichs» geleitet werden.
Doch die Ausgangslage ist schwierig: Frankreich hat mit über 3300 Milliarden Euro die höchste Staatsverschuldung der Eurozone, eine tief gespaltene Nationalversammlung und einen Präsidenten, dessen Autorität selbst ins Wanken geraten ist.
Diese Baustellen warten nun auf den neuen Premier:
Seit der Wahl 2024 stehen sich drei Lager unversöhnlich gegenüber: Macrons Mitte, das Linksbündnis und Marine Le Pens Rechtsnationale. Keines verfügt über eine Mehrheit, Koalitionen sind in Frankreich unüblich. Lecornu muss in diesem zersplitterten Parlament Mehrheiten finden – und gleichzeitig verhindern, dass seine Regierung wie die von Barnier oder Bayrou scheitert.
Frankreich steckt mit einer Schuldenquote von 114 Prozent der Wirtschaftsleistung tief in den roten Zahlen. Das Haushaltsdefizit liegt bei 5,8 Prozent, die EU hat bereits ein Defizitverfahren eröffnet. Lecornu muss Sparmassnahmen durchsetzen und gleichzeitig soziale Proteste vermeiden – eine Aufgabe, an der sein Vorgänger Bayrou zerbrochen ist.
Frankreich ist ein Land der Strassenproteste. Jede Reform ruft Widerstand hervor, die Angst vor Aufständen ist gross. Lecornu muss zwischen Sparkurs und sozialem Frieden balancieren – und verhindern, dass neue Generalstreiks die Regierung erneut ins Wanken bringen.
Frankreich kämpft mit schwachem Wachstum, Arbeitslosigkeit und Reformstau. Renten, Gesundheitssystem und Wohnungsmarkt sind unter Druck – Lecornu braucht Antworten, die Akzeptanz finden.
Der Präsident selbst steht unter Druck: Zwei Premiers in einem Jahr sind gescheitert, die Opposition fordert Neuwahlen oder gar Macrons Rücktritt. Lecornu muss beweisen, dass er nicht nur eine Übergangsfigur ist, sondern Macron politische Stabilität verschaffen kann.
Während Deutschland und Brüssel Antworten von Paris erwarten, droht Frankreich international an Einfluss zu verlieren. Lecornu muss zeigen, dass Frankreich trotz innenpolitischem Chaos handlungsfähig bleibt – in der EU, bei Haushaltsfragen und in internationalen Krisen.
Sébastien Lecornu tritt sein Amt in einer der schwierigsten Phasen der Fünften Republik an. Gelingt es ihm nicht, Kompromisse zu schmieden und die Finanzlage zu stabilisieren, drohen Macron und Frankreich noch grössere Turbulenzen.
(mke)