Der «olympische Traum», von dem Pariser Medien gerne sprechen, ist zu Ende, und das Aufwachen droht hart auszufallen: Die Franzosen erinnern sich vage, dass sie gar keine Regierung haben. Die bisherigen Minister führen nur die Geschäfte. Seit der verpatzten Parlamentsauflösung im Juni hat Emmanuel Macron die grösste Mühe, eine mehrheitsfähige Regierung zusammenzustellen.
Denn weder die Linke, die Mitte noch die Rechte kommen in der Nationalversammlung auf die absolute Mehrheit von 289 Sitzen. Das riefe nach einer Koalition, doch darin hat Frankreich keine Übung.
Hilft jetzt Olympia weiter? Macron hatte schon vor Wochen versprochen, er werde «Mitte August», also nach Ende der Spiele, einen neuen Premier ernennen. In der Zwischenzeit hat sein Land aber einen seltenen Moment nationaler Verbrüderung und Union erlebt.
Olympia war ein Sommermärchen, für das Pariser Volk und viele Besucher eine einzige Party. Die Stadien waren voll, und im «Club France», der grössten Fanzone im Pariser Villette-Viertel, stimmten Tausende vor den Grossbildschirmen jeweils spontan die Nationalhymne an.
«Ah, wie ist die Marseillaise doch schön!», entfuhr es einem Präsentator am Samstag, und die Bemerkung hatte nichts Chauvinistisches, sie zeugte eher von einem republikanischen Wir-Gefühl über alle Unterschiede hinweg. Das Zauberwort lautete «diversité», Vielfalt. Im Tuilerien-Park kam es zu Szenen, die man nach den Debatten über Gelbwesten- und Polizeigewalt nicht für möglich gehalten hätte: Zu den Klängen einer akustischen Gitarre holten junge Feiernde sogar Polizisten zum Tanz.
Für Macron, der auf den olympischen Tribünen omnipräsent war, bietet diese republikanische Kommunion eine unverhoffte Chance: Er könnte die Nation nun auch politisch zusammenscharen, indem er eine parteiübergreifende Regierung der nationalen Einheit bildet. Sie würde auch sonst Sinn machen, wäre sie doch die einzige Möglichkeit, eine handlungsfähige Equipe auf die Beine zu stellen.
Zentral wäre die Person des Premierministers. Zwei Namen zirkulieren: Xavier Bertrand vom sozialgaullistischen Flügel der Konservativen und der sozialistische Ex-Premier Bernard Cazeneuve. Wichtige Reformen müssten sie kaum anpacken; ihre Funktion bestünde vor allem darin, eine breit gefächerte Mitte-Regierung zu ermöglichen und die Zeit bis Juni 2025 zu überbrücken. Dann erst könnte Macron laut der französischen Verfassung Neuwahlen ansetzen, um das politische Patt in der Nationalversammlung zu beheben.
Ob Macron die Chance packen kann und wird, ist keineswegs garantiert. Eine Koalition, das heisst Machtteilung, ist nicht sein Ding. Die meisten Parteien einer gemässigten «nationalen» Regierung, so auch die Sozialisten, würden zudem den Rückzug der wichtigsten Macron-Reformen verlangen. Der Staatschef kann nicht gut Parteivertreter in die Regierung holen, deren erstes Ziel es wäre, seine so hart erfochtene Rentenreform mit Pensionsalter 64 Jahren rückgängig zu machen.
Wie Macron trotzdem eine Regierung der «olympischen Einheit» zimmern will, bleibt sein Geheimnis. Sicher ist nur: Wenn er es nicht schafft, wird er das Olympia-Momentum verlieren. Dann müsste er wohl die «Neue Volksfront» (Sozialisten, Grüne, Kommunisten, Unbeugsame) mit der Regierung betrauen. Sie hat allerdings auch keine Mehrheit, auch wenn sie etwas mehr Sitze als die Mitte oder die Rechte zählt.
Mit der Spitzenfunktionärin Lucie Castets hat sie ebenfalls eine Premier-Kandidatin - die dritte - lanciert. Macron verweigert sich dieser Option mit dem Argument, die Linke würde schon nach ein paar Tagen durch eine Misstrauensabstimmung der Rechten und extremen Rechten zu Fall kommen. (aargauerzeitung.ch)