Die «Operation Schnecke» begann am Montagmorgen: Zwei im Schritttempo fahrende Traktoren genügten, um den Autobahnzubringer im Südwesten von Paris, die N118, lahmzulegen. Dann fuhren die Landwirte mit ihren schweren Gefährten an 80 Knotenpunkten in ganz Frankreich in Zeitlupe auf. Seither folgen jeden Tag neue Sperren.
Die Bauernproteste richten sich gegen das so genannte Mercosur-Abkommen der EU mit Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay und neuerdings auch Bolivien. Es schafft mehr Freihandel für europäische Produkte wie Autos, Pharmaprodukte oder Finanzdienstleistungen; Südamerika will Rindfleisch, Geflügel sowie Zucker liefern. Die EU-Kommission rechnet zum Beispiel mit jährlich 99'000 Tonnen «Beef» aus Südamerika.
Deutschland ist als Exportnation hoch interessiert an dem Deal, wie Kanzler Olaf Scholz jüngst beteuerte. Laut dem französischen Bauernverband FNSEA bedroht diese «Billigkonkurrenz» jedoch mehrere tausend Bauernhöfe, die etwa in Sachen Hormonbewirtschaftung an höhere Umweltstandards als die Südamerikaner gebunden sind. Die Grünen monieren zudem, die EU-Normen gegen Abholzung seien gerade im Amazonasgebiet nicht kontrollierbar. Auch die anderen politischen Parteien in Paris sind gegen Mercosur.
Präsident Emmanuel Macron, seit Samstag auf Südamerikatournee, erklärte auf seiner ersten Station in Buenos Aires, Frankreich werde das Abkommen «in der vorliegenden Form» nicht unterzeichnen. 88 Prozent der Franzosen sind laut Umfragen gegen Mercosur. Vor den TV-Kameras sagen die meisten Befragten des Gastronomie-Landes, sie zahlten lieber etwas mehr für ein etwas besseres «Bifteck». Macron, von seinem Naturell her ein Befürworter des Freihandels, kann deshalb gar nicht anders, als sich in Sachen Mercosur querzulegen. Der innenpolitisch angeschlagene Präsident nimmt sogar in kauf, dass die Frage seine gesamte Südamerikatournee von dieser Woche vermasselt.
In der EU ist Frankreich so isoliert wie kaum je zuvor. Die meisten Partnerstaaten sehen das bikontinentale Abkommen wie Deutschland als eine Chance für Europa, dem Protektionismus der USA oder Chinas etwas entgegenzusetzen. Peking investiert Milliarden in Südamerika und weihte letzte Woche in Peru einen Megahafen für seine «Neue Seidenstrasse» ein. Südamerika exportiert ferner Minerale wie Lithium oder Kobalt, die eine wichtige Grundlage für die technologische Unabhängigkeit Europas unter anderem bei der Smartphone-Herstellung bilden.
Um sich innenpolitisch den Rücken zu stärken, hat Macron für kommenden Dienstag eine Debatte in der französischen Nationalversammlung anberaumt – wohlwissend, dass die meisten Parteien aus Rücksicht auf ihre ländlichen Wähler gegen Mercosur stimmen werden. Agrarministerin Annie Genevard versucht derweil in Brüssel eine Sperrminorität gegen den Mercosur-Vertrag auf die Beine zu stellen.
Doch selbst Agrarländer wie die Niederlande, Irland oder Polen halten eher zu Deutschland. Frankreich könnte am Schluss allein dastehen – und müsste sich dem Mehrheitsvotum unterwerfen. Das wäre eine noch nie dagewesene Schmach für die Grande Nation. Von Deutschland und Spanien gedrängt, haben die Verhandlungspartner bereits den 6. Dezember in Montevideo zur Unterschrift festgelegt. Macron könnte die Zeremonie boykottieren, heisst es in Paris.
Die Schweizer Wirtschaft verfolgt das EU-interne Tauziehen mit grossem Interesse. Die EFTA-Staaten Schweiz, Norwegen, Liechtenstein und Island haben mit vier Mercosur-Staaten im August ebenfalls ein Freihandelsabkommen ausgehandelt; und sie warten nur noch auf das Mercosur-Abkommen der EU. Die Schweizer Landwirte und Grünen stehen eher auf der Seite Frankreichs, Wirtschaftsvertreter halten dagegen zu Deutschland. Die nächsten zwei Wochen müssen die Entscheidung bringen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen arbeitet an einem Kompromiss: Als Entschädigung für Mercosur-geschädigte Landwirte bietet sie dem Vernehmen nach einen Hilfsfonds von einer Milliarde Euro an. Ob sich das seit einem Vierteljahrhundert diskutierte Mercosur-Abkommen damit retten lässt, muss sich weisen. (aargauerzeitung.ch)