Der Himmel über London ist grau an diesem 6. Mai, kein Königswetter. Die britische Hauptstadt hat sich herausgeputzt, der Union Jack und das neue königliche Wappen zieren Anstecker, Flaggen, Poster. Bei der Anfahrt auf die Innenstadt mit dem Auto taucht man zunächst in ein Sirenenmeer, Einsatzkräfte überall. In den U-Bahn-Stationen leiten Schilder auf die Prozessionsroute.
Ein kurzer Erstkontakt mit den Royals findet bereits am Freitag statt, dem Tag vor der Krönung, um 12 Uhr mittags, als sintflutartige Regenschauer sich über die Stadt ergiessen. An der Westminster Abbey drängen sich Menschen mit Regenschirmen um den Eingangszaun. In der Luft dröhnt ein Helikopter. Plötzlich Pfiffe der Polizisten, die Menge muss einem Konvoi weichen. Jubel brandet auf: Der royale Bentley verlässt die finalen Proben. Für Sekunden ist die Königsfamilie nur wenige Meter entfernt. Eine Frau telefoniert aufgeregt: «Da waren Charles und Camilla direkt vor uns! Und sie haben uns zugewinkt!»
Wenige Stunden später beim Abendessen im Union Jack Club, einem Treffpunkt für Veteranen. An den eierschalenfarbenen Wänden im Speisesaal hängen Gemälde vom Panzern und Poster mit Durchhalteparolen aus dem Zweiten Weltkrieg. («Save for the brave»). Am Nachbartisch sitzt ein mit schweren Orden beladener Australier, der im Vietnamkrieg das Victoria Cross erhalten hat, die höchste militärische Auszeichnung von Grossbritannien und dem Commonwealth. Er zählt zu den Ehrengästen der Truppen, die ihre eigene Parade abhalten.
Unser Gastgeber Ken (84) ist überzeugter, glücklicher Royalist: «Ich bin mit der Monarchie aufgewachsen, genauso wie die Army verbinde ich sie mit Respekt. Das Gute an der Königsfamilie ist, dass sie weniger kostet als sie uns einbringt, sie ist die beste Firma von England». Seine Partnerin Tina sagt: «Als Britin gibt mir das Königshaus ein Gefühl von Identität. Und wären die Alternativen automatisch besser? Andere bekommen dann eben einen Präsident Trump.»
Charles werde es als König nicht einfach haben, glauben beide. Selbst wenn er sich sein Leben lang auf seine Aufgabe vorbereiten konnte, sind die Fussstapfen der Queen wohl zu gross. Aber man solle ihm Zeit geben, findet Ken. Die Öffentlichkeit urteile oft zu harsch über die Royals, sie seien trotz allem letztlich auch nur eine Familie mit Problemen wie jede andere. Ob es mit der königlichen Macht nicht gerade umgekehrt verhalte? Schliesslich bezahlt ja die Öffentlichkeit den ganzen königlichen Zirkus und sperrt die Mitglieder in den goldenen Käfig zwecks Entertainment und Identitätsbildung. Diesem Gedanken stimmen die Royalisten sofort zu.
Die royale Vermarktung treibt allerorts ihre reichen Blüten: Das wahlweise lausbübisch lächelnde, wahlweise leicht ernst-entrückte Gesicht des neuen Monarchen ziert unter anderem: Teller, Tassen, Flaggen, Teedosen, Tischdecken, Kissen, Ofenhandschuhe. Charles grüsst von lebensgrossen Papp-Aufstellern, nickt als Wackelfigur zustimmend mit dem Kopf. Heinz-Ketchup wird als Kingchup verkauft.
Zusätzlich zu dem aktuellen Krönungstinnef findet sich in etlichen Geschäften noch immer das übrig gebliebene Merchandise, das im September 2022 zum Staatsbegräbnis der Queen aufgeboten wurde.
Die breite Prachtstrasse The Mall führt vom Buckingham Palace auf den Trafalgar Square. Schon Tage vor der Zeremonie wird sie von der Polizei abgeriegelt. Auf der einen Seite belegen Campierende die erste Reihe, dekorieren die Umzäunung mit Plakaten und Fähnchen. Die auffälligsten Anhängerinnen werden von Journalisten belagert. Die Kameras und Mikrofone lieben den royalen Fanclub aus den USA oder die Gruppe älterer Damen, von denen einen in ein Kleid mit dem Konterfei des Königs gehüllt ist, während sich ihre Freundin als Grenadier Guard verkleidet hat.
Keef war bereits an der Beerdigung von Lady Diana. Der Besucher aus Suffolk erhofft sich, dass die Leute mit der Feier glücklich werden. «Charles wird ein guter König werden, warum sollte er es nicht?», gibt er sich überzeugt. Er höre den Menschen zu, sei ein «Freund von Mutter Erde» und habe sehr viel von seiner Mutter gelernt. Diese drei Qualitäten werden hier öfters genannt. Zur Kontroverse um Prinz Harry und seiner Frau Meghan, die in den USA geblieben ist und statt der Krönung den vierten Geburtstag von Söhnchen Archie feiert, sagt Keef nur: «Wie man sich bettet, so liegt man. Ohne Meghan würde das Land Harry wohl mit offenen Armen wieder aufnehmen.»
Sarah aus Surrey trägt den Union Jack als Cape umgebunden. Die Lehrerin muss am Freitag noch unterrichten, zum Glück passen die Zeltnachbarn auf ihren Platz auf. «Das ist ein historischer Moment, der so nicht noch mal passieren wird». Doch bei weitem nicht alle im Land sind so euphorisch. Vielen ist die Krönung egal, die Zustimmungswerte für das Königshaus im Allgemeinen und Charles im Speziellen sind laut Regierungsumfragen auf einem Tiefstand.
Noch fordert keine bedeutende politische Partei öffentlich ein Ende der Monarchie. Doch vereinzelte Stimmen, die beim Tod der Queen aus Pietät noch geschwiegen hatten, werden am Festtag zunehmend laut. Am Trafalgar Square ähnelt der Anlass mehr einer Demonstration als einem Krönungsumzug. Dort bereitet die Protestgruppe Republic dem König einen ungemütlichen Empfang: «King parasite» und «Charles Windsor is my equal» steht auf ihren Schildern, ein grosses gelbes Banner mit dem Motto «Abolish the monarchy» hängt im Sichtfeld der Fans. Stunden zuvor waren wichtige Mitglieder von Republic an anderer Stelle verhaftet worden.
Eine der Protestierenden ist eine junge Frau, zufällig tatsächlich namens Charlie. Sie lehnt die Monarchie grundsätzlich als Herrschaftsform ab, selbst wenn Charles sich als bester König aller Zeiten entpuppen sollte: «Ich glaube nicht an ein gottgegebenes Recht, über andere zu herrschen. Die Monarchie steht symbolisch für alles, was hier im Land schief läuft hinsichtlich falscher Privilegien und fehlender Meriokratie. Und das ganze Geld, das uns das Königshaus einbringen mag, rechtfertigt kein System, das uns alle degradiert.»
Eine Frau, die eigens auf eine Ampel klettern will, um die Kutsche besser zu sehen, findet, die Protestanten hätten das Recht, ihre Meinung zu äussern. «Aber nicht das Recht, allen anderen den Tag zu verderben», meint ihr Nachbar. Eine andere Dame sagt zu einem Polizisten: «Warum stehen die Idioten überhaupt hier, wenn sie das alles ablehnen?»
Jedes Mal, wenn die Republicans ihre Sprechchöre anstimmen, werden sie von der Menge leidenschaftlich ausgebuht: «Losers!». Ein Mann stimmt ein «My King, I am proud of it» an. Kurz vor Umzugsbeginn konfisziert die Polizei ein grosses Protestbanner unter dem höhnischen Beifall der Königsfans.
Als die Kutsche gegen 10.30 Uhr durch den Admirality Arch rollt, brandet gewaltiger Jubel auf, unter dem die vereinzelten Buh-Rufe vollkommen untergehen. Einem hochgewachsenen Gentleman im Anzug entfährt ein andächtiger Seufzer beim Anblick des Königspaars. Auch hier ist die goldene Kutsche, die bei jeder Krönung seit 1831 eingesetzt wurde, binnen Sekunden um die Ecke entschwunden.
Im Coal Hole Pub bei Covent Garden ist es ab 11 Uhr brechend voll. Andächtig schauen die Menschen mit einem Pint Bier im der Hand auf den Flachbildschirm, auf dem der zweistündige Gottesdienst übertragen wird. Die monumentale Akustik der Westminster Abbey wird höchstens von jener im Pub übertroffen. So manches Amen wird von den Besucherinnen und Besuchern laut bekräftigt und der zuvor kontrovers in der britischen Medien debattierten öffentlichen Schwur auf den König wird hier zumindest leise mitgemurmelt.
Noch ernster als die Zuschauerschaft blickt Charles während der gesamten Feier; fast, als sei der lang ersehnte Tag die Bürde seines Lebens und ihm Handschuh, Mantel und Schwert zu gross. Kurzes Gelächter im Pub als um 12 Uhr die Krone nicht sofort perfekt sitzt und nachjustiert werden muss. Dann kollektive Begeisterung, hoch die Gläser: «We have a King! » (aargauerzeitung.ch)
Besser kann man es nicht formulieren.