2023 war von Kriegen, Eskalationen und Krisen geprägt. Grund genug, den Kopf in den Sand stecken? Tatsächlich gehen die guten Nachrichten in der Flut der Katastrophen oft vergessen. Der Politologe, Historiker und Autor Joseph de Weck erinnert uns daran, welche Ereignisse Europa dieses Jahr gestärkt haben und welchen Einfluss diese auf die Zukunft haben werden.
«Derzeit läuft vieles ungut auf der Welt – eine Binsenwahrheit. Trotzdem stimmen einige Entwicklungen zuversichtlich. Beispielsweise die Parlamentswahlen in Polen im Oktober. Gewinner war ein Bündnis von Parteien Mitte-rechts und links.
Gut sieben Jahre lang waren in Warschau die Rechtsnationalisten der PiS-Partei an der Macht gewesen. Autoritär setzten sie alles daran, Polen in ein zweites Ungarn zu verwandeln. Die PiS brachte weite Teile der Justiz unter ihre Kontrolle, indem sie Richter in den Ruhestand zwang. Die öffentlichen Medien verwandelte sie in eine Propagandamaschine. Auch versuchte sie, private Medien zu beherrschen. Die Regierung schränkte die Rechte der Frauen ein, hetzte gegen Ausländer, schürte den Hass gegen Deutschland. Da spannte die Opposition zusammen: Trotz unfairer Bedingungen entschied sie die Wahl für sich.
Der Sieg der polnischen Demokraten ist unter anderem ein grosser Verdienst der Europäischen Union. Brüssel und die EU-Mitglieder hatten in den 2010er-Jahren den Ungarn Viktor Orbán gewähren lassen: Er brachte fast alle Medien unter seine Kontrolle, er schloss Universitäten, wenn sie nicht gefügig waren. Die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Europäer machten Deals mit dem korrupten Orbán, statt gegen die Aushöhlung von Demokratie und Rechtsstaat vorzugehen.
Diesen Fehler wollten die Europäer im Falle Polens nicht wiederholen: Als die PiS 2015 eine Willkürherrschaft zu errichten begann, hielt die EU diesmal dagegen. Sie blockierte EU-Gelder und verklagte die Warschauer Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof. Das zwang die PiS immer wieder, ihre Pläne zu überarbeiten. Der Sieg der demokratischen Kräfte in Polen ist also auch ein Erfolg der EU. Ihre historische Aufgabe ist es, den Frieden auf unserem Kontinent zu sichern. Aber mittlerweile ist der Staatenbund auch die beste Versicherung gegen antidemokratischen Kräfte.
Für die EU war 2023 ein Jahr der Wende: Erstmals haben die Europäer mehr militärische Hilfe an die Ukraine geleistet als die USA. Das wird sich 2024 verstärken. Angesichts der ungemütlichen Perspektive, dass Donald Trump ins Weisse Haus zurückkehren und die Ukraine fallen lassen könnte, ist dies eine erfreuliche Entwicklung. Auf lange Sicht wird sich Europa immer weniger auf die USA als Sicherheitsgaranten stützen können. Allmählich versteht man das auch in Berlin und zunehmend auch in Warschau.
Sehr nützlich ist zudem ein historischer Entscheid der EU im Dezember: Sie hat der Ukraine und Moldawien eine Beitrittsperspektive eröffnet. Vor Jahresfrist wäre eine solche Entscheidung undenkbar gewesen. Noch Anfang des Jahrtausends wollten Paris und Berlin den Beitritt der Ukraine aus einem einfachen Grund verhindern: Das Land bildete eine Pufferzone zwischen Russland und der EU. Um eines friedlichen Miteinanders willen waren viele Europäer bereit, Russland diesen Puffer zuzugestehen. Was ihrerseits die Ukrainerinnen und Ukrainer wollten, war egal.
Im Jahr 2013 aber gingen sie massenhaft auf die Strasse, namentlich auf dem Hauptplatz der Hauptstadt Kiew, dem Maidan: Sie brachten ihre Regierung zu Fall, weil sich diese von Moskau einschüchtern und die Pläne für eine engere Anbindung an die EU fallen liess. Vladimir Putin aber wusste, dass sein autoritäres Regime in Gefahr ist, wenn aus der benachbarten Ukraine eine echte Demokratie wird. Darum befahl er 2014 die erste russische Invasion. Doch es bedurfte der zweiten Invasion 2022, bis Europa begriff, dass Putin kein Interesse an Frieden mit Europa und einer Ukraine als Pufferstaat hat. Die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen ist also ein epochaler Sieg im Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer für Selbstbestimmung und Demokratie.
Und: Dieser Beschluss der Europäischen Union wird sehr wohl auch die Schweiz betreffen. Die EU wird sich im kommenden Jahrzehnt enorm verändern, um die Ukraine und andere Länder aufnehmen zu können. Sie wird zwar grösser, aber flexibler werden. In einer solchen modulareren EU wird es für die Schweiz neue Perspektiven geben.
Im Rückblick fällt auf, dass 2023 ein Jahr der Vergeltung und der Ressentiments war. Neben dem revanchistischen Angriffskrieg auf die Ukraine erlebten wir die Offensive von Aserbaidschan, um das armenische Bergkarabach zurückzuerobern, den Massenmord durch die Hamas vom 7. Oktober und den unerbittlichen Gegenschlag Israels, die erneut aufflammenden Spannungen zwischen Serbien und Kosovo, die Putschs in afrikanischen Ländern, die sich letztlich auch gegen den verhassten einstigen Kolonialherrn Frankreich richteten.
All jene Kräfte, die eine Rechnung offen haben oder sich übervorteilt wähnen, sahen den Zeitpunkt gekommen, auf den Plan zu treten. Das hat auch damit zu tun, dass die «Weltpolizisten» USA und Westen mit eigenen Problemen kämpfen und zusehends überfordert sind. Diese Ordnungsmächte haben je länger, desto weniger Ordnungskraft.
Auf solch düsterem Hintergrund jedoch sticht heraus, dass die Türkei und Griechenland sich langsam wieder annähern. Nach den Erdbeben in der Türkei zu Jahresbeginn reagierte der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis sofort – und schickte Hilfe in die betroffenen Gebiete. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat Mitsotakis unlängst zum ersten Mal seit Jahren in Athen besucht.
Ein erfreuliches Vorzeichen, denn es hätte ebenso sein können, dass Erdoğan die allgemeine Unruhe für sich genutzt und im östlichen Mittelmeer den Konflikt mit dem griechischen «Erzfeind» gesucht hätte. Dies hätte die NATO enorm destabilisiert und die EU in ein Dilemma gestürzt: Sollen die Europäer das EU-Mitglied Griechenland stützen oder aber die Türkei, die immerzu droht, das für Europa so bequeme Abkommen über Geflüchtete zu kappen? Erdoğan entschied sich, die Nähe zu Griechenland zu suchen und ersparte Europa damit eine weitere Krise.
Nicht zu vergessen ist: Good News sind oft auch Dinge, die nicht passieren. Etwa, dass eine gross angelegte Offensive der südlibanesischen Hizbollah auf Israel verhindert werden konnte – ein bedeutender Erfolg. Ein abermaliger Krieg im Südlibanon übrigens würde eine neue und gewaltige Fluchtwelle in Europa auslösen. Auch wirtschaftlich ist die Katastrophe, die viele erwartet hatten, nicht eingetroffen. Im Frühjahr die Bankenkrise in den USA, hierzulande die Credit Suisse – zahlreiche Fachleute beteuerten, das werde eine globale Finanzkrise hervorrufen. Doch die Wirtschaft ist robuster als gedacht. Wer sich vor Augen führt, dass die Welt viele geopolitische Krisen durchlebt, der staunt, dass Europa bisher nicht in eine Rezession gerutscht ist. Zudem sinkt die Inflation, sie dürfte im Laufe des nächsten Jahrs mehr oder weniger gemeistert werden.
Und die Europawahlen im Juni 2024? Seit je muss ich mir das Narrativ anhören, dass der Aufstieg der Rechtspopulisten unaufhaltsam sei und ihre radikalen bis extremistischen Parteien das Ende der EU einläuten. Dieses Narrativ war jederzeit falsch. Gesamthaft wird Rechtsaussen gewiss zulegen. Trotzdem werden die rechtsautoritären Kräfte weit davon entfernt sein, die Mehrheit im Europäischen Parlament zu erobern.
Ohnehin: In Sachen Europapolitik mitten sie sich immer stärker ein, während sich die Mitte-Rechts-Parteien in der Migrationspolitik verhärten. Niemand will es Grossbritannien mit seinem misslungenen Brexit nachmachen und aus der EU austreten. Die Europawahl wird sich nicht um die Frage drehen, ob es die EU künftig noch gibt, sondern wie sie aussehen soll. Innerhalb der Europäischen Union ist das Bild gemischt.
In den Niederlanden haben die Rechtsaussen-Parteien bei den jüngsten Wahlen etwa 5 Prozentpunkte dazugewonnen. In Spanien aber triumphierte wider aller Erwartungen die Mitte-Links-Regierung, die rechtsextremistische Partei Vox erzielte ein miserables Ergebnis.
Europa ist komplex. Jedes Land hat seinen politisch-wirtschaftlichen Biorhythmus. Das ist wohl Europas grösste Stärke gegenüber den USA.
Ja, Europa ist vielteilig und träge. Aber dafür hält sich Europa eher im Lot. Am Brüsseler Verhandlungstisch werden immer Regierungen von Links über Mitte bis Rechts sitzen, die Kompromisse finden müssen. Wie die Schweiz baut die EU auf dem Prinzip, die Macht auf viele Hände zu verteilen, damit niemand zu stark wird.
Und das bedeutet: Im Staatenbund EU gestaltet es sich für Antidemokraten äusserst schwierig, die demokratischen Institutionen dauerhaft zu beschädigen, so wie es den USA mit der Wiederwahl von Donald Trump droht. Das demokratische Haus Europa hält. Für uns schweizerische Europäer ist nichts wichtiger als das.»
(Aufgezeichnet von Anna Böhler)