Wo befinden Sie sich gerade?
Talal Burnaz: Ich bin gerade in unserem Büro in Tripolis.
Davor waren Sie in Derna, einer der am schlimmsten betroffenen Städte. Wie ist die Situation in der Stadt im Moment?
Ich war vor einer Woche dort. Die Lage ist katastrophal. Tausende von Gebäuden sind zerstört. Ganze Stadtteile wurden von den Wassermengen mitgerissen. Die hohen Wellen spülten die Infrastruktur ins Meer. Im Schlammwasser treibende Autos. Die Trinkwasserversorgung ist stark beschädigt worden. Es besteht die Gefahr, dass sich über das verunreinigte Wasser Krankheiten ausbreiten. Dutzende Kinder sind bereits erkrankt.
Was sind Ihre Aufgaben, wie helfen Sie in dem Krisengebiet?
Als Teil das Sanitätsteam ist es unsere Aufgabe, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Unser Team arbeitet in einem Feldlazarett und verabreicht vor allem Medikamente, insbesondere gegen die häufigsten Krankheiten des Landes: Bluthochdruck, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Darüber hinaus unterstützen wir die Menschen mit psychosozialer Hilfe. Tausende von Menschen haben ihr Hab und Gut verloren. Wissen nicht, wo sich ihre Familienangehörigen befinden. Ihnen steht eine ungewisse Zukunft bevor.
Was benötigen die Menschen derzeit am dringendsten?
Die Menschen brauchen derzeit vor allem psychologische Unterstützung sowie Unterstützung in Form von sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Unterkünften. Vor allem die Trinkwasserversorgung ist ein grosses Problem. Tausende Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser.
Was sind die grössten Schwierigkeiten bei Ihrer Arbeit im Moment?
Die grösste Herausforderung besteht darin, alle Menschen zu versorgen. Die Infrastruktur in vielen Gebieten ist durch die Wassermassen so stark beschädigt worden, dass wir Schwierigkeiten haben, die Menschen zu erreichen. Zufahrtsstrassen sind weggeschwemmt, Brücken unter dem Schlamm begraben. Die Verteilung von Hilfsgütern verläuft demnach nicht reibungslos.
Wie gehen die Menschen mit der Situation um?
Die Bevölkerung befindet sich noch immer in einem Schockzustand. Man sieht es in ihren Augen. Spürt es, wenn sie sprechen. Es ist ein Desaster. Selbst die Helfer und Helferinnen sind fassungslos angesichts des Ausmasses der Katastrophe.
Was war der emotionalste Moment, den Sie während Ihres Einsatzes erlebt haben?
Es gab einige Momente, die unter die Haut gingen. Ich habe viele Menschen getroffen, die weinend auf den Ruinen ihrer zerstörten Häuser sassen. Beruflich habe ich schon in vielen Konfliktgebieten in Libyen gearbeitet, doch so was habe ich noch nie erlebt. Ich erinnere mich an eine junge Mutter, die mich anflehte, sie bei der Suche nach ihren Kindern zu unterstützen. Sie sagte: «Ich spüre, dass sie noch am Leben sind.»
In den letzten Tagen wurde berichtet, dass das Vergraben von Leichen in Massengräbern ernsthafte Probleme wie Krankheiten verursachen könnte. Wie erleben Sie die Situation?
Solange die Leichen nicht mit Wasserquellen in Kontakt kommen, besteht keine Gesundheitsbedrohung. Das Problem ist ein anderes: Es kommt teils zu übereilten Bestattungen, wobei man den Angehörigen nicht genügend Zeit gibt, die Leichen zu identifizieren.
Libyen ist eines der am stärksten verminten Länder der Welt. Wie gross ist die Gefahr, dass die Fluten Landminen in andere Gebiete gespült haben?
Es ist davon auszugehen, dass die Fluten Landminen aus dem Erdreich gespült und in andere Orte geschwemmt haben. Durch die Tausenden von Vertriebenen, die Zuflucht in anderen Städten suchen, steigt nun das Risiko, in Kontakt mit den Explosionswaffen zu kommen.
Die politische Lage ist schwierig. Vor drei Tagen protestierten viele Menschen gegen die Regierung in Ostlibyen. Was wissen Sie darüber?
Als humanitärer Helfer sollte ich mich nicht zu politischen Fragen äussern.
Es wurde berichtet, dass der Internetzugang von der Regierung eingeschränkt wurde, um die Proteste kleinzuhalten. Wird dadurch die Arbeit der unterstützenden NGO's beeinträchtigt?
Wir hatten tatsächlich Probleme mit der Internetverbindung. Dies hatte einen negativen Einfluss auf unsere Arbeit. So konnten wir beispielsweise unser Team nicht erreichen, als wir es mit neuen Medikamenten versorgen wollten.
Da kommt mir ein erster Gedanke: Wir, in den westlichen Ländern, jammern auf hohem Niveau. Ich bin einfach nur dankbar, dass ich in einem solchen Land geboren wurde.